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Karaoke

Titel: Karaoke
Autoren: Kaminer Wladimir
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meines Vaters traten an jedem Sonntagmorgen in der Muntermach-Sendung Morgenpost so genannte VIAs auf. So nannte man die sowjetischen Popbands: das V stand für Vokal, das I für Instrumental und das A für Ensemble. Sie sangen optimistische Lieder über die Liebe, den Frühling und den Sozialismus, waren korrekt gekleidet und politisch sehr engagiert. Ihre Texte waren manchmal sogar witzig. So sang zum Beispiel das VIA Pesnjari in seinem berühmten Lied »Vologda«:
    Oh, meine Liebe,
    Nun weiß ich, wo du steckst:
    In Vologda, wo denn sonst,
    Im Haus mit dem grünen Holzzaun.
    Vologda war eine kleine Stadt. Und jeder wusste: Es gab dort nur ein Haus mit besagtem Zaun: die Klinik für Geschlechtskrankheiten.
    Die VIAs waren eine Missgeburt des sozialistischen Realismus und führten eine bescheidene Existenz am Rande der sowjetischen Leitkultur. Sie waren nicht so realistisch und überzeugend wie die Armeechöre, aber auch nicht so unwiderstehlich exotisch wie die Kubaner, die in unserem Fernsehen mit dem Lied »Aga-aga-aga« den Westen ersetzten. Die VIAs musizierten irgendwo dazwischen, und keiner mochte sie so richtig. Auch mein Vater, der ansonsten für jeden Mist im Fernsehen zu haben war und sogar noch bei einer alten, hässlichen Nachrichtensprecherin einen schönen Busen entdecken konnte, seufzte jedes Mal, wenn die VIAs auf dem Bildschirm erschienen, und schaltete den Ton ab. Wir sehnten uns nach einer anderen Musik, wussten aber nicht so recht, wie sie sich anhören sollte. Die Straßenfolklore war eine schwache Hoffnung.
    Die meisten Stars der kapitalistischen Welt waren bei uns unbekannt. Der Sternenhimmel der freien Marktwirtschaft war weit von uns entfernt, nur seltene Sternschnuppen konnten aus der gut beleuchteten Außenwelt durch die engen Ritzen der ideologischen Zensur zu uns
    vordringen, und selbst dann blieben sie in den speziell für ausländische Gäste eingerichteten Reservaten. Hauptsächlich in dem Fernsehprogramm Der fremde Freund — Die Sterne der ausländischen Kultur. Diese Sendung wurde nur zu den großen Feiertagen und dann sehr spät ausgestrahlt. Man musste sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln wach halten und mindestens drei Nachrichtenprogramme überstehen, um sie zu sehen. Der Spaß ging erst in der Morgendämmerung richtig los: Es gab Lieder und Tänze der kubanischen Revolution, die abgefahrene Band Puhdys aus der DDR — fünf Jungs mit exotischen Frisuren und noch exotischeren Instrumenten — und immer wieder den tschechischen Schmusesänger Karel Gott in goldenem Sakko und Jeans.
    Sie alle waren nicht herausragend unterhaltsam, genossen aber stets die freundliche Aufmerksamkeit der Bevölkerung — bis eines Tages Amanda Lear im sowjetischen Fernsehen erschien und sie alle an die Wand sang. Sie wirkte wie ein Wesen von einem fremden Planeten: eine große, kräftig gebaute Sängerin mit langem blondem Haar und einer tiefen, ungemein erotischen Stimme. Wie sie es nur geschafft hatte, sich in unser prüdes quadratisches Fernsehen einzuschleichen? War Amanda Lear etwa Mitglied einer kommunistischen Partei? Gar ein Agent des KGB? Oder hatte sie jemanden aus dem Politbüro verführt? Das alles interessierte aber niemanden. Die Zuschauer quälten sich mit einer ganz anderen Frage. War Amanda Lear ein Mann oder eine Frau?
    Es kursierten verschiedene Gerüchte über die Sängerin. Man erzählte sich zum Beispiel, dass sie von einer russisch-mongolischen Mutter in Hongkong als Junge geboren wurde und sich später in Südfrankreich in eine Frau verwandelt hat. Die erotische Wirkung von Amanda Lear auf die sowjetische Bevölkerung war trotzdem jedes Mal schweißtreibend. Die Männer kämmten sich die Haare, ehe sie sich vor die Glotze setzten, und die Frauen stellten sich dazwischen. Bevor sie ihr erstes Lied sang, sprach Amanda immer ein paar Sätze auf Russisch mit einem starken französisch-englischen Akzent, der sie noch aufregender machte:
    »Isch liebe das große sowjetische Volk. Das ist mein erstes Mal in der Sowjetunion, isch möchte Ihnen singen.« So sprach sie und lächelte dabei so hintergründig, als ob sie auf der Stelle das ganze große sowjetische Volk vögeln wollte. Und das große sowjetische Volk wurde dabei
    noch größer. Danach sang sie das Lied »Hello Stranger,you're a Danger«. Das große sowjetische Volk strengte sich an, alles zu verstehen, blieb länger wach als sonst und konnte noch lange danach nicht einschlafen.
    Ein älterer Freund von mir, ein
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