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Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)

Titel: Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus: Es gibt Alternativen zum herrschenden System (German Edition)
Autoren: David Graeber
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mit Mexiko zusammenzulegen. Wir produzierten sogar Aufkleber mit der Aufschrift »Dieses Gebiet untersteht nicht mehr der amerikanischen Rechtshoheit«.) Doch die eigentliche Frage blieb trotz allem ungelöst, und ich zerbrach mir weiterhin den Kopf darüber, zumal in dem Moment noch nicht einmal Konsens darüber bestanden hatte, dass Theorie überhaupt von Bedeutung sei.
    Ich beispielsweise hatte mehrere wunderbare Jahre meines Lebens damit verbracht, fieberhaft zu forschen und wie wild an einem Buch über eine anthropologische Theorie des Wertes zu tippen. Damals war ich überzeugt, es sei quasi meine intellektuelle Pflicht, der Welt all diese wirkmächtigen theoretischen Konzepte zur Verfügung zu stellen, die an der University of Chicago entwickelt worden waren, während ich dort studierte und promovierte. Die eigentlichen Urheber dieser Theorien hatten diese nämlich nie in irgendeiner allgemein zugänglichen Form publiziert, was ich als ziemlich verantwortungslos empfand. Das Ergebnis meiner Bemühungen stellte, zumindest in meinen Augen, einen wichtigen Forschungsbeitrag innerhalb der anthropologischen Disziplin dar. Als ich meine Arbeit dann im Jahr 2001 veröffentlichte, musste ich jedoch erkennen, dass die Vertreter der Disziplin meine Meinung nicht teilten. Niemand schenkte der Publikation viel Aufmerksamkeit, was mir recht deutlich vermittelte, dass das Theoretisieren im Stile der University of Chicago, das Entwickeln umfassender Theoriegebäude, inzwischen als irrelevant und passé
angesehen wurden. Lagen die Anthropologen also richtig damit, die Theoriebildung hinter sich zu lassen?
    Nun, zumindest ist es mir gelungen, die Frage zu meiner eigenen Zufriedenheit zu beantworten. Die Anwendung theoretischer Konzepte hat durchaus den Blick auf Dinge freigelegt, die ansonsten übersehen worden wären. Beispielsweise die wohl heimtückischsten »verborgenen Auswirkungen der Klassengesellschaft« 1 in Nordamerika: Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht wird Menschen das Recht vorenthalten, Gutes zu tun, edelmütig zu handeln beziehungsweise irgendeine Form von Wert anzustreben, die nicht mit Geld zu tun hat. Oder zumindest wird es ihnen verweigert, Gutes zu tun und dafür im Gegenzug finanzielle Sicherheit oder irgendeine andere Form der Entlohnung zu erhalten. Der leidenschaftliche Hass auf die »liberale Elite«, der in rechtspopulistischen Kreisen so ausgeprägt ist, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als völlig verständliche Empörung über eine Klasse, die ihren eigenen Kindern die Chance bietet, Werte wie Liebe, Wahrheit, Schönheit, Ehre und Anstand anzustreben und sich damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Allen anderen wird diese Möglichkeit jedoch vorenthalten. Das endlose Sich-Identizifieren mit den Soldaten (»Unterstützt unsere Truppen«) rührt im Endeffekt daher, dass dies nahezu die einzigen Individuen in den USA sind, die ursprünglich aus der Arbeiterklasse kommen, aber trotzdem eine Möglichkeit gefunden haben, nach einem höheren Ideal zu streben und dafür bezahlt zu werden. Oder die sich zumindest einreden können, dass ihre Arbeit im Großen und Ganzen darin besteht. (Interessant
ist, dass die Menschen sich nach wie vor mit den Soldaten identifizieren, obwohl diese im Laufe der Jahre im Prinzip auf reine High-Tech-Söldner reduziert wurden, deren einzige Aufgabe darin besteht, die globale Herrschaft des Finanzkapitals militärisch durchzusetzen.) Natürlich würden die meisten Soldaten lieber nach höheren Idealen streben, ohne dabei Gefahr zu laufen, ein Bein zu verlieren. Doch ihnen ist sehr wohl bewusst, dass praktisch sämtliche Berufe in diesem Bereich den Kindern der Reichen vorbehalten bleiben. Die Wut auf die intellektuelle liberale Elite rührt in erster Linie daher. Der Text zeichnet somit ein seltsam ambivalentes Bild. Doch wir täten gut daran, uns diese Zusammenhänge in der jetzigen Situation, angesichts des Wiederauflebens rechtspopulistischer Strömungen, nochmals deutlich vor Augen zu führen.
    Zu Beginn des Essays Die Misere des Postoperaismus werden mehrere Leute vorgestellt, die vermutlich der Inbegriff dessen sind, was Rechtspopulisten verabscheuen: eine Gruppe ehemaliger Revolutionäre der 1960er Jahre, die nun dafür bezahlt werden, dass sie vor einem aus Galeriebesitzern und Doktoranden bestehenden Publikum Vorträge über Kunstgeschichte halten. Besagte Veranstaltung fand im Januar 2008 in der Tate Modern in London statt. Das
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