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Kaltherzig

Titel: Kaltherzig
Autoren: Tami Hoag Fred Kinzel
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lieben könnte?
    Die Tränen flossen wie Regen, während sie dort saß und wartete. Sie fühlte sich, als wäre sie aus zersprungenem Glas. Sie konnte sogar die Linien zwischen den Bruchstücken sehen, wenn sie im Mondlicht auf ihr Handgelenk schaute.
    Sie kauerte stundenlang an der Wand von Bennett Walkers
Haus in jener Nacht, und ihr ganzes Wesen pochte vor Schmerz.
    Irgendwann vor Morgengrauen kam Irina heraus, um eine Zigarette zu rauchen. Sie setzte sich auf eine Liege am Pool und streckte ihre langen Beine aus.
    » Ich kenne dich nicht«, sagte Lisbeth und stellte sich neben den Liegestuhl. Sie sah auf die Fremde hinab, die sie sich zu einer Märchenprinzessin zurechtfantasiert hatte. »Wie konntest du das tun, Irina? Wie konntest du mir das antun?«
    »Niemand hat dir etwas angetan, Lisbeth«, antwortete Irina. »Sie haben es alle mir angetan.«
    Sie hatte dazu gelacht, ein hartes, zynisches Lachen, das für Lisbeth so schrill klang wie zusammenschlagende Topfdeckel.
    »Werde erwachsen, Lisbeth«, sagte sie.
    Unaussprechlich gekränkt war Lisbeth hinter den Liegestuhl getreten. Sie kauerte sich nieder und legte weinend die Hände vors Gesicht.
    » Ich habe dich geliebt«, wimmerte sie immer wieder, »ich habe dich geliebt...«
    Der Schmerz war größer und größer geworden, er drohte sie zu zermalmen.
    Langsam waren ihre Hände um den Kopfteil der Liege gewandert, und ihre Fingerspitzen waren über Irinas Oberarme gestrichen.
    Und dann, ohne dass es ihr richtig bewusst wurde, hatte sie das Lederband um Irinas Hals in den Händen gehalten, an dem das Medaillon hing, dasselbe, das sie auch besaß. Sie hatten es zusammen auf der Pferdeschau in Wellington gekauft.

    Und ihre Hände schlossen sich fest um das Band.
    Und ihr Schmerz schwoll an.
    Und vor ihren Augen verschwamm alles.
    Und sie dachte: Alles, was ich wollte, war, dass du mich liebst.
     
    Sie weinte jetzt laut, ein Klang so voller Qual und rohem Schmerz, dass er nichts Menschliches an sich hatte. Sie weinte um alles, was sie verloren hatte - ihr Herz, ihre Unschuld. Sie weinte um alles, was sie nie haben würde - eine Zukunft, eine Familie, Liebe.
    Und als sie aufhörte zu weinen, war nichts mehr übrig. Sie war leer, am Ende. Es war Zeit.
    Ohne jede Gefühlsregung zog sie sich aus. Aus der Tasche der geliehenen Jacke zog sie ein kleines, sehr scharfes Messer, das sie sich ebenfalls aus Elenas Küche geborgt hatte.
    Mit der Spitze dieses Messers öffnete sie eine Ader in ihrem linken Handgelenk und eine in ihrem rechten.
    Dann stieg sie in das dunkle Wasser des Kanals und vergoss ihr Leben in ihn, Tropfen für Tropfen.

70
    Manchmal reicht es einfach nicht, obwohl wir unser Bestes geben - nicht für unsere Umgebung, nicht für die, die wir lieben, nicht für uns selbst.
    Landry und ich schafften es in Rekordzeit zu der Stelle am Kanal, wo ich Irina gefunden hatte. Aber wir kamen dennoch zu spät.

    Landry trat auf die Bremse, und ich glaube, wir waren beide aus dem Auto gesprungen, ehe es richtig stand.
    Ich lief so schnell ich konnte über die Brücke zum anderen Ufer, wo das Scheinwerferlicht das kleine Bündel geborgter Kleidungsstücke beleuchtete, das Lisbeth ordentlich gefaltet dort hinterlassen hatte.
    Ich rief ihren Namen und drehte mich um, als würde sie sich dann vor meinen Augen materialisieren.
    Landry fing mich ab, ehe ich mich zu weit drehen und zu viel sehen konnte. Er zog mich an sich und hielt mich fest, während ich auf die einzige Weise weinte, auf die ich weinen konnte - mit meiner Seele.

71
    In gewisser Weise hatte ich das Gefühl, als wäre ich im Laufe jener Wintertage gestorben und zu neuem Leben erwacht.
    In Irinas Tod sah ich den Tod von Träumen, die es aus meiner Sicht nie hätte geben dürfen. Das Leben, das sie sich gewünscht hatte, und die Gründe, aus denen sie es sich wünschte, hätten sie niemals glücklich gemacht. So wie auch ich kein Glück mit Bennett gefunden hätte.
    In Bennetts Tod sah ich die Mühlen der Gerechtigkeit, die sich in ihrem eigenen Tempo drehten, nicht in meinem. Der alte Hass und die Verbitterung, die ich all die Jahre gehegt hatte, verschwanden einfach. Ich war nicht zufrieden. Ich war nicht erleichtert. Ich empfand kein Gefühl von Vergeltung, Triumph oder was immer. Was ich fühlte,
war die Abwesenheit eines Gefühls, und ich wusste, dass es lange dauern würde, bis ich gänzlich verstand, worum es bei all dem gegangen war.
    In Lisbeths Tod sah ich zu vieles und aus zu großer Nähe, und
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