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Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab
Autoren: Stephen Booth
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sie.
    Und Marie Tennent sollte den neuen Tag nicht mehr erleben.
    Ben Cooper betrat das Café. Es war voller Gäste, die noch halb schlafend vor ihren Teetassen saßen und sich durch den Dampf, der ihnen in die Nasen stieg, nur mit Mühe wach hielten. Als Cooper kräftig aufstampfte, um sich den Schnee von den Füßen zu treten, wandten sich wie gewöhnlich einige von ihm ab.
    In der Nähe des Tresens saß ein einzelner Mann. Er trug einen dunklen Mantel und eine Manchester-United-Kappe. Cooper schob sich von hinten an ihn heran, bis er an ihm riechen konnte. Der Mann verströmte einen Geruch, der sich nicht nur von dem Duft nach Schinkenspeck und Spiegelei abhob, sondern auch von dem Mief nach nassem Hund, der von den feuchten Mänteln und dem schmutzigen Fliesenboden aufstieg.
    Cooper trat einen Schritt zur Seite, um das Profil des Mannes zu betrachten.
    »Morgen, Eddie«, sagte er.
    Der Gast nickte beiläufig. Mehr konnte Cooper unter diesen Umständen nicht erwarten. Eddie Kemp war für die meisten Polizeibeamten der Division E ein alter Bekannter und regelmäßiger Gast in ihren Verwahrungszellen und Befragungsräumen, aber in letzter Zeit hatte er auch andere Teile des Reviers in der West Street besucht, wenn auch nur von außen. Eddie Kemp hatte sich als Fensterputzer selbstständig gemacht.
    »Mieses Wetter fürs Geschäft, was?«, sagte Cooper.
    »Verdammt mies. Meine Fensterleder sind prügelhart gefroren. Die Dinger sehen aus wie vertrocknete Kuhfladen.«
    Kemp sah aus, als wäre er in keiner besonders guten Verfassung. Seine Augen wirkten müde und waren gerötet, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Das Starlight öffnete um fünf Uhr morgens – für die Postbeamten, deren Schicht im Sortierdienst um diese Zeit anfing, für die Busfahrer und die Eisenbahner und auch für den einen oder anderen Polizisten. Kemp sah aus, als wäre er an diesem Morgen der erste Gast gewesen.
    »Legen Sie bitte die Hände auf den Tisch«, forderte Cooper ihn auf.
    Kemp sah ihn missmutig an. »Sie wollen mir doch nicht das Frühstück verderben?«
    »Tut mir Leid, aber ich muss Sie festnehmen.«
    Der Mann hob seufzend die Handgelenke. »Die haben bloß gekriegt, was sie verdient haben«, sagte er.
    Doch, es war das Geräusch von Schritten. Schritte, die rings um sie herum im Schnee knirschten. Marie Tennents Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihr Zwerchfell, und ein Adrenalinstoß schoss wie Säure in ihre Muskeln. Sie hörte eindeutig Schritte, menschliche Schritte, die ihr zu Hilfe eilten, aber auch Schritte von etwas Schnellerem und Leichterem, das über die Schneeoberfläche jagte. Sie war überzeugt davon, dass ein Suchhund sie gewittert hatte, dass Arme ausgestreckt wurden, um sie aus dem Schnee zu ziehen und in eine Wärmedecke zu hüllen, dass jeden Augenblick freundliche Hände ihre Haut wärmen und besänftigende Stimmen den heftigen Schmerz in ihren Ohren lindern würden.
    Aber die Schritte gingen an ihr vorbei. Sie konnte nicht um Hilfe rufen, weil ihr Körper nicht mehr genug Kraft aufbrachte, um zu reagieren. Ihre Lippen und ihre Zunge weigerten sich, dem Schrei in ihrem Kopf zu gehorchen.
    In diesem Moment wusste Marie, dass sie einer Täuschung erlegen war. Die Schritte, die sie gehört hatte, stammten von Wölfen oder anderen wilden Tieren, die im Hochmoor lebten. Sie spürte, wie sie näher kamen und sich hastig wieder zurückzogen, wie die haarigen Bäuche über den nassen Schnee schleiften und sie gierig darauf warteten, ein Stück von ihrem Körper zu ergattern. Sie malte sich aus, wie ihnen der Geifer von den Lefzen troff, wie sie darauf lauerten, Stücke aus ihrem erkaltenden Fleisch zu reißen, obwohl ihnen der Menschengeruch, der noch immer daran haftete, zugleich Angst einflößte. Das leichte Prickeln auf ihren Wangen und in den Fältchen um ihre Augen verriet Marie, dass die Räuber schon so nahe waren, dass sie ihren Atem auf dem Gesicht spürte. Wenn sie die Augen öffnete, würde sie in ihre Mäuler blicken, auf den triefenden Speichel und die weißen Zähne. Aber sie konnte die Augen nicht mehr öffnen. Die Tränen hatten ihre Lider festgefroren.
    Die Angst schwand, als die Bilder Marie wieder entglitten. Sie standen ihr immer noch vor Augen, doch die Kälte hatte ihnen alle Farbe entzogen. Die Farben waren zerschmolzen und verlaufen, bestanden nur noch aus verwaschenen Grautönen und dunklen Ecken, beraubten Maries Erinnerungen jeder Bedeutung. Sie konnte die Geräusche, die Gerüche
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