Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kaltes Grab

Titel: Kaltes Grab
Autoren: Stephen Booth
Vom Netzwerk:
Zeit.
    Gerade als er die Nase noch näher an das Fenster presste, wurde drinnen eine Hand sichtbar und wischte die Scheibe frei. Vor ihm erschien das Gesicht einer Frau mit empört aufgerissenen Augen. Ihre Lippen formten einen obszönen Fluch, ehe sie zwei Finger in einem blauen Wollhandschuh reckte. Cooper wich zurück. Also keine Toasts heute Morgen, und auch keinen Kaffee.
    »Zentrale, ich brauche einen Wagen zum Starlight Café in der Hollowgate.«
    »Kommt in zwei Minuten, DC Cooper … Ist es da draußen immer noch dunkel?«
    »Es ist eine Stunde vor Tagesanbruch«, antwortete Cooper. »Was dachten Sie denn?«
    Das Eis und der böige Wind waren schuld an Marie Tennents schlimmsten Wahnvorstellungen. Es war, als bohrte jemand Dolche in ihr Gehirn, und zwar so tief hinein, dass die Klingen in ihrem Schädel aneinander schabten und dabei einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten.
    In der letzten Stunde vor ihrem Tod glaubte Marie, Musik durch den Wind heulen zu hören, das Zischen von Reifen auf einer vereisten Straße und murmelnde Stimmen tief unter dem Schnee. Ihr Verstand versuchte verzweifelt, die Geräusche zu deuten, das, was mit ihr geschah, einzuordnen. Doch die Musik war nicht greifbar, wie das Gebrabbel eines schlecht eingestellten Radios, kurz bevor die Batterien den Geist aufgeben.
    Marie lag inmitten der Gerüche von zerdrücktem Schnee und feuchter Luft, den Geschmack ihres eigenen Blutes im Mund, und ihr Körper war eine irritierende Landschaft aus kalten Stellen, Taubheit und Schmerzen. Dort wo der Schnee in ihren Kleidern geschmolzen und wieder gefroren war, brannten ihre Arme und Beine. Das Hämmern in ihrem Kopf war zu einer zornigen, unerträglichen Qual angewachsen.
    Trotz ihrer Schmerzen war sich Marie in einem lichten Augenblick darüber bewusst, dass die Geräusche, die sie hörte, von den winzigen Knochen in ihrem Innenohr herrührten, die beim Gefrieren schrumpften und sich zusammenzogen. Sie rieben gegeneinander und erzeugten ein Flüstern und Murmeln, eine Parodie von Geräuschen, die sich über ihren langsamen Rückzug aus der Wirklichkeit lustig machten. Es war ein verstörender und unartikulierter Abschied, eine letzte rätselhafte Botschaft aus der Realität, das Einzige, was ihr Sterben begleitete.
    Die Sonne war hinter dem Rücken vom Irontongue Hill verschwunden. Das schneebedeckte Hochmoor lag im Schatten, und die Temperatur sank rasch. Marie spürte den zarten Kuss von Schneeflocken im Gesicht. Auf der Bergspitze lagen die letzten Sonnenstrahlen, das Licht färbte den Schnee auf den Felsen bläulich. Der Irontongue selbst war nicht zu erkennen, seine schrundige Säule aus dunklem Sandstein ragte nach Süden über das Tal. Doch weiter im Norden sah sie irgendwo Wasser aufblitzen, dort, wo das Blackbrook-Reservoir in einer Mulde eingebettet lag.
    Das Letzte, was Marie sah, bevor sich ihre Lider schlossen, war ein schmaler, dunkler Umriss, der den Himmel über dem Hügel teilte. Er schien den grauen Wolkenbauch wie eine Rasierklinge zu zerschneiden. Maries Verstand klammerte sich an diesen Gedanken, und sie bot ihre letzte Widerstandskraft auf, um gegen den Schmerz anzukämpfen. Letztendlich war dieses zerfallende Denkmal in der Mitte des Schneefeldes nicht der Ort, an dem sie sterben sollte. Es gehörte den Männern, die gemeinsam gelebt hatten und gemeinsam gestorben waren. Allein zu sterben war etwas völlig anderes.
    Auf der Leinwand ihres inneren Auges blitzte eine Folge leicht unscharfer Dias auf. Sie verschwanden zu schnell, als dass sie erkannt hätte, was sie bedeuteten, trotzdem wusste Marie, dass sie etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun hatten. Auf jedem Bild wankten und zappelten undeutliche Gestalten vor einem dunklen Hintergrund. Jedes Bild brachte einen kurzen Ausbruch an Gerüchen, Geschmäcken und Geräuschen mit sich, ein Kaleidoskop aus Sinneseindrücken, das ihr sämtliche Gefühle entzog und sie von ihr wegrissen, bevor sie erkannte, worum es sich eigentlich handelte.
    Da war auch eine Stimme … die Stimme eines Menschen, den sie kannte, an den sie sich tatsächlich erinnerte, kein Schneephantom. »Bald sind wir zusammen«, sagte sie. »Bist du glücklich?«, fragte sie.
    Und dann gab es nur noch vier allerletzte Worte. Inmitten einer Woge unerträglichen Schmerzes waren sie plötzlich da, inmitten des Geruchs nach schmutzigen Laken und dem Geräusch trippelnder Schritte über ihr. Dieselbe Stimme, aber wiederum doch nicht.
    »Es ist zu spät«, sagte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher