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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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hypnotisierend. Für eine Weile war sie
nicht mehr in dieser Küche. Sie stand in ihrem eigenen
Garten – ihrem privaten, geheimen Garten, nicht in dem, den
sie mit ihrer Erdgeschosswohnung gemietet hatte – und sog die
Düfte von Fingerhut, Rittersporn und Kornrade ein.
    Nein. Dieser Gedanke musste ebenfalls beiseitegeschoben
werden. Sie hatte etwas zu erledigen. Wenn dieser Tag überstanden war,
konnte sie eine Weile ausruhen. Fortgehen. Wegziehen. An die See.
Veränderung sei genauso gut wie Erholung, sagte man ja.
    Während der Kessel vor sich hinflüsterte, ging sie in die
Diele zurück und zog den Mantel aus. Ehe sie ihn an einen der Haken
gleich hinter der Tür hängte – die, wie sie immer fand, einer
Reihe von Fleischerhaken ähnelten, die darauf warteten, dass
Schlachtfleisch an ihnen aufgehängt wurde –, blickte sie sich
in der Diele um, bemüht, sie sich einzuprägen: das Linoleum. Die
Tapete. Die Treppe. Dies ganze Ambiente war so sehr in den fünfziger
Jahren verwurzelt, als die Straße gebaut worden war, um eine von denen
zu ersetzen, die Hitlers Bomben zum Opfer gefallen waren, dass man
geradezu die lachenden Stimmen von Children's Hour zu hören meinte, die auf einer Wolke aus Knistern und
Rauschen aus dem Lautsprecher eines Bakelit-Radios drangen.
    Sie schüttelte sich. Bleib in der Gegenwart, Violet, ermahnte
sie sich. Konzentriere dich.
    Sie öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Die Vorhänge waren halb
zugezogen, und in dem türkisfarbenen Licht dieses sonderbaren Himmels
hätte das Zimmer auch unter Wasser sein können. Die eine Seite wurde
von einem Kamin eingenommen: Kalt, wie schon seit etlichen Jahren, und
flankiert von zwei metallenen Kaminböcken. Ein massiver Schreibschrank
dominierte die andere Seite des Raumes, die Intarsien kaum sichtbar in
der trüben, wässrigen Beleuchtung. Drüben in der Fensternische stand
ein Fernseher – stumm.
    Daisy saß in dem Ohrensessel mit den geschwungenen Armlehnen,
das graue Haar noch gewellt vom letzten Friseurbesuch. Die Augen, in
gedunsenes, knittriges Fleisch gebettet, waren geschlossen. Sie schien
nicht zu atmen.
    »Daisy?« Violet streckte den Arm aus, um ihre Pergamenthand zu
schütteln. »Daisy?«
    Daisy fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Sie schreckte vor
Daisy zurück wie ein Hund, der Prügel erwartet.
    »Ich bin's bloß. Ich bin vom Einkaufen zurück.«
    Daisy hockte noch immer verkrümmt in ihrem Sessel.
Misstrauisch blickte sie zu Violet auf. Langsam schwand der Argwohn,
und sie lächelte. »Hab bloß meine Augen ein bisschen ausgeruht«,
murmelte sie.
    »Eingeschlafen sind Sie«, erklärte Violet, ging zum Fenster
neben dem Fernseher und zog die Vorhänge zurück.
    »Ich habe nachgedacht. Hab an früher gedacht.«
    »Ich mach Ihnen eine Tasse Tee.« Violet wandte sich um und
lächelte Daisy an. »Ich habe auch an früher gedacht, als ich eben die
Straße entlanggegangen bin. An Enteneier. Erinnern Sie sich noch an
Enteneier?«
    Daisy lachte. »Enteneier, die hab ich schon 'ne Ewigkeit nicht
mehr gegessen. Seit dem Krieg nicht mehr. Damals gab's die dauernd.
Blau waren sie. Und lecker.«
    »Jetzt gibt's sie wieder in den Geschäften«, sagte Violet.
»Spezialitäten nennt man sie jetzt. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
    »Spezialitäten!«, wiederholte Daisy abfällig. »Typisch
Supermarkt. Die lassen sich mehr bezahlen für Sachen, die bloß so
schmecken, wie sie sowieso schmecken sollen. Ich weiß noch, früher, da
waren Eier nicht einfach Eier, das waren Norfolk Greys oder German
Longshanks oder Dorkings. Hatten alle verschiedene Größen und Farben.
Manche waren gesprenkelt, manche nicht, manche waren rau, die anderen
glatt. Nicht wie heute. Heut sind sie alle glatt und braun und gleich
groß.« Plötzlich ging ihr auf, was Violet gefragt hatte. »Ja, Tee wäre
nett.«
    Violet ging in die Küche. Der Kessel hatte gerade gekocht, und
die Luft war tropisch. Sie goss ein bisschen Wasser in die Teekanne und
schwenkte es herum, um das Porzellan anzuwärmen, dann goss sie es in
den Ausguss und schaufelte zwei gehäufte Teelöffel aus der Dose in die
Kanne. Vorsichtig goss sie Wasser aus dem Kessel darauf, sah, wie es
aufschäumte, als es auf die Blätter traf. Wieder stieg ihr der Geruch
in die Nase: dieses wundervolle Aroma von Alter und Gewürz und Rosen.
Sie schloss die Augen und badete förmlich darin, spürte, wie der Dampf
ihre Wangen und ihre Stirn mit Feuchtigkeit benetzte.
    »Ich erzähle Ihnen noch was, woran ich mich
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