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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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»Ich – ich
weiß nicht recht«, meinte sie gedehnt. »Ja, ich glaube, ich kann es.«
Sie grub in ihrem Gedächtnis … Erinnerungsfetzen tauchten auf
wie Ausschnitte aus Fotografien – von ihren Händen, die Karten
hielten –, aber es gab keinen Zusammenhang, keinen
Hintergrund. Die Erinnerungen waren isoliert, kaum verknüpft mit der
Realität, und sie ließen sich in dem wenigen, was sie von ihrem Leben
noch wusste, beliebig umherschieben.
    Und da war noch eine andere Erinnerung, ein anderes Bild. Ein
Tisch. Eine lange Tafel, zum Tee gedeckt, in einem verdunkelten Raum.
    Verscheuche das Bild. Verscheuche es schnell!
    »Bestimmt ist hier irgendwo ein Satz Spielkarten«, sagte Daisy
und deutete vage zum Schreibschrank hinüber. »Vielleicht könnten wir
nachher ein Spiel machen. Bloß ein kurzes.« Sie lächelte zögernd.
    »Ja, vielleicht«, meinte Violet, noch immer irritiert durch
jene plötzliche, unwillkommene Erinnerung.
    »Und dann könnte ich …«
    Daisy stockte, ihre gurgelnden Worte verwirrten sich. Speichel
flog von ihren Lippen, sprühte durch die Luft. Plötzlich glänzte ihre
Unterlippe, als ihr Speichel über das Gebiss lief und das Kinn hinunter
troff. »Violet …!« Wieder eine Speichelexplosion, als sie
hustete. »Was ist mit mir?«
    Violet fuhr zurück, ihr Herz pochte leicht, aber rasend
schnell. Die Welt war plötzlich hell und glasklar. Sie konnte rote
Streifen in dem Speichel sehen, der jetzt als dickes glänzendes Rinnsal
aus Daisys Mund lief.
    »Kein Grund zur Aufregung«, hörte sie sich sagen, »das ist
bald vorbei.«
    Daisys Hände krümmten sich um ihre Kehle, krallten sich in die
schlaffe Pergamenthaut. Ihre Lippen waren dunkelrot und geschwollen.
Tiefes Rot breitete sich auf dem Hals aus, und gutturale Laute
entfuhren mit jedem Speichelschwall ihrem Mund. »Gra… geh… hil…!«
    »Wissen Sie, ich bin verblüfft, wie schnell sich die Blasen
gebildet haben«, meinte Violet und atmete tief durch, um sich zu
beruhigen. Sie wandte sich von Daisy ab und hockte sich auf den Rand
des Sofas. »Ich hatte erwartet, dass das viel länger dauert. Ich war
mir natürlich nicht sicher, wie hoch die Dosis sein muss, und da habe
ich mich dann wohl zur Verschwendung hinreißen lassen.«
    Sie beugte sich vor und schaute in Daisys Augen. Normalerweise
war das Weiße gelblich und die Iris von verblichenem Porzellanblau,
jetzt jedoch waren sie blutunterlaufen und trieften heftig. Tränen
rollten ihr die Wangen hinab und vermischten sich mit dem roten
Speichelstrom, der aus der aufgerissenen Höhle ihres Mundes floss.
    »Ich weiß, das muss erschreckend sein«, murmelte Violet, als
Daisy in ihren Lehnstuhl zurückfiel und ihre Augen sich verdrehten,
»aber bald ist alles vorbei, das verspreche ich Ihnen.« Sie beugte sich
vor und tätschelte Daisys Hand, die die Armlehne des Sessels
umklammerte. Das eine von Daisys Augen war starr vor Verzweiflung auf
Violet gerichtet, das andere schien ein Eigenleben angenommen zu haben
und schaute zur Decke. Blähungen entfuhren ihr: ein lang anhaltender,
feuchter Laut, der gar nicht aufhören wollte.
    »Sie fragen sich sicher, wodurch das ausgelöst worden ist«,
schwatzte Violet weiter, um ihre Reaktion auf das, was hier passierte,
auszublenden. »Christrose, das klingt so reizend, nicht wahr? Oder auch
Winterrose, wie sie in manchen Gartenbüchern genannt wird. Schwarze
Nieswurz klingt sehr viel bedrohlicher, und ich glaube nicht, dass Sie
so viel von dem Tee getrunken hätten, wenn ich Ihnen gesagt hätte, dass
Schwarze Nieswurz drin ist. Nicht nur die Blüten, auch die zerstoßenen
Wurzeln und die Rinde. Komisch, was für verschiedene Namen die Leute
ein und derselben Sache geben.«
    Der übliche Geruch im Hause, nach Lavendel und gekochtem
Gemüse, wurde jetzt von einem weitaus schlimmeren, widerwärtigen
Gestank überlagert. Von einem Geruch nach Fäkalien und Erbrochenem.
Violet wandte sich angeekelt auf dem Sofa ab. Bald ist alles vorbei,
sagte sie sich. Alles bald vorbei.
    Daisy saß in einer immer größer werdenden Lache ihres eigenen
wässrig-blutgetränkten Kotes, krümmte sich darin, verkrampfte sich
darin, rieb ihn in ihr Kleid und den Bezugsstoff des Sessels. Den
Sessel würde Violet später hinten im Garten verbrennen müssen, zusammen
mit Daisys Kleidung und einem Haufen Gartenabfällen, um den Gestank zu
überdecken. Und die übriggebliebenen Teeblätter natürlich. Die konnte
sie nicht einfach herumliegen lassen. Wenn sie es jetzt vergaß
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