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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift
Autoren: Nigel McCrery
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Das war wohl Emma
Bradbury, die ihm Daisy Wilsons Adresse durchgab. Oder DCS Rouse, der
ihn feuerte. Wie auch immer, er fuhr weiter. Die SMS hatte Zeit, bis er
seinem Ziel näher war. Solange er noch glaubte, einen Beruf zu haben,
musste er Madeline Poel finden.
    Er behielt während des Fahrens den Rückspiegel im Auge, vage
darauf gefasst, einen schwarzen Lexus zu erblicken, der ihm auf den
Fersen war, doch die Wagen hinter ihm waren anonym und gestaltlos und
verschwammen zu einem allgemeinen dunstigen Panorama. Seine Gedanken
jagten zwischen zwei Polen hin und her. Der eine war Martin Geherty,
der hoffentlich noch in Rouses Büro festsaß, der andere war dieses eine
Gespräch, das er vor langer Zeit mit Madeline Poel geführt hatte.
    Er konnte sich kaum noch an sie erinnern. Damals hatte er an
seinem Master in forensischer Psychologie gearbeitet und war vom
Polizeidienst freigestellt gewesen. Seine These lautete, dass es bei
krimineller Veranlagung bestimmte grundlegende Persönlichkeitsmerkmale
gibt, die sich durch einen simplen Fragenkatalog erfassen lassen.
Deshalb sprach er mit so vielen Kriminellen, wie er konnte, um zu
ergründen und zu bestimmen, was genau sie waren. Dabei war seine
Synästhesie sehr hilfreich gewesen, obwohl er das in seiner
Abschlussarbeit niemals zugegeben hätte. Es gab nämlich bestimmte
prägnante Geschmacksempfindungen, die immer wieder auftraten, wenn er
die Stimmen von Verbrechern hörte, etwa so wie essenzielle Duftnoten im
Parfüm.
    Madeline Poel war klein und höflich gewesen, erinnerte er
sich, doch sie hatte über das, was an jenem Tag bei der Teeparty
geschehen war, nicht reden wollen. Sie war als Borderline-Psychopathin
diagnostiziert worden, mit einer Punktzahl von zweiunddreißig auf der
überarbeiteten Psychopathie-Checkliste von Hare. Die Frau hatte ihm
tatsächlich Tee angeboten, erinnerte er sich, obwohl der Tisch des
Vernehmungszimmers völlig leer gewesen war. Als er ja sagte, bloß um zu
sehen, was passierte, goss sie ihm aus einer unsichtbaren Kanne Tee in
eine unsichtbare Tasse und fügte dann unsichtbare Milch und
unsichtbaren Zucker hinzu. Die ganze Zeit über beobachtete er sie,
wartete darauf, dass ihr klarwurde, was sie da tat, aber sie fuhr mit
der Charade fort, fragte ihn sogar, warum er denn nicht trinke.
    Als er später in der Zeitung las, sie sei an einer Herzattacke
gestorben, war er zugleich erleichtert und traurig gewesen.
Erleichtert, weil er, während er mit ihr sprach, gespürt hatte, dass
sie niemals fähig sein würde, in der Gesellschaft normal zu
funktionieren. Traurig, weil sie bei alledem so freundlich und
gesprächig gewesen war. Und weil sie ihm Tee angeboten hatte.
    »Alle tot, die eigentlich leben sollten«, flüsterte er vor
sich hin, »und die, die leben, sollten eigentlich
tot sein.«
    Colchester kam und ging, der Wagen fuhr weiter. Wegweiser von
Clacton und Frinton huschten vorüber. Der Wagen kreischte mit der
geringsten Abweichung von einer Geraden, die Lapslie hinbekam, um
Kreisverkehrsinseln herum. Die Landschaft war flach und in großartige
Farben gehüllt – das Braun der gepflügten Erde, das Grün der
Felder, die brachlagen, um sich auf natürliche Weise zu regenerieren,
und das aufreizende Gelb blühender Rapsfelder. Nahe dem Horizont war
der Himmel von tieferem Blau, reflektierte das unsichtbare Meer. Er
stieß auf Traktoren, überholte sie auf gerader Strecke, wenn ihm nichts
entgegenkam. Hinweisschilder auf Walton-on-the-Naze, zum Sportzentrum,
zum Kai, zur Seepromenade flitzten vorüber, und dann lag nur noch
Leyston vor ihm: das Ende des Landes, das Ende der Spur.
    Lapslie hielt in einer Parkbucht und nahm sich sein Handy vor.
Etliche Voicemails warteten auf ihn, aber er ignorierte sie zugunsten
der einzigen SMS, von Emma. Es war eine Adresse in Leyston-by-Naze,
gefolgt von einer schlichten Botschaft: Hier herrscht
Weltuntergang. Nicht ans Handy gehen!
    Das Navigationssystem lotste ihn am Bahnhof vorbei und einen
Hügel hinab in Richtung Stadtzentrum. Plötzlich war rechts neben ihm
nichts mehr, außer einem niedrigen Steinwall und dem gebieterischen
Meer dahinter, doch dann kamen wieder Häuser, und er rollte in die
Stadt hinunter, vorüber an einer Teestube, einer Spielhalle und einem
Fischrestaurant, dann weiter durch die Hauptstraße mit ihrem Gemisch
aus Fleischern, Bäckern und Zeitungshändlern, dazwischen Tattooschuppen
und Läden, die Schwimmringe, Wasserbälle und Zuckerwatte feilboten. Er
bremste an einer
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