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Kalter Zwilling

Kalter Zwilling

Titel: Kalter Zwilling
Autoren: Catherine Shepherd
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als Abkürzung, um schnell in die Stadt zu gelangen. Kinderhände eigneten sich aufgrund ihrer Größe wunderbar für seine Falle. Ihre kleinen Finger würden im Nu stecken bleiben, sobald sich diese nach den reifen Früchten ausstreckten. Dann würde alles blitzschnell gehen. Die Falle schnappte zu und die kleinen Fingerchen wären sein. Schon jetzt hörte er den schrillen Schrei, der sich mit Entsetzen aus der Kinderkehle löste, sobald der Finger von der Hand getrennt würde. Er sah das Engelsgesicht vor sich, wie es erst lächelnd vor Gier die verlockenden Blaubeeren anstarrte, um sich einen Moment später vor Schmerz zu verzerren. Dahin wäre das Engelsgesicht. Verdrängt von einer Teufelsmaske, die mit schiefem Mund und wild funkelnden Augen das wahre Ich eines Menschen zum Vorschein brachte. Das Böse.
    Er wusste, dass es das Böse gab. In jedem Menschen machte es sich breit. Er hatte es selbst so oft gespürt, wie es sich langsam anschlich. So unwiderstehlich näherkam, dass er aller guten Vorsätze zum Trotz sein Versprechen brach. Weil er der Gier nicht widerstehen konnte, weil er das Gefühl des Triumphes brauchte wie die Luft zum Atmen und weil er nicht das war, was die Leute in ihm sahen. Er war anders und in diesen Momenten konnte er es voll und ganz ausleben. Es gab ihm Kraft, anschließend wieder normal zu sein, unauffällig - ja sogar uninteressant für alle, die ihn kannten.
    Er duckte sich hinter einer dicken Weide. Wie lange würde er heute wohl warten müssen? Die letzten Male waren ihm stets nur Tiere in die Falle gegangen. Erst vor drei Tagen war es ein junger Schäferhund. Tapsig und vollkommen naiv hatte es ihn erwischt. Der dumme Hund hatte ihm vertraut. Sein Instinkt hätte ihn warnen sollen, doch er hatte ihn das Leben gekostet.
    Er hatte ihm die Schlinge fest um die Kehle gezogen und ihn anschließend eine lange Strecke bis hin zum Krötschenturm geschleift. Dann hatte er geduldig gewartet, bis die Alte sich vor ihrer Hütte blicken ließ und just in jenem Moment, als sie über die Schwelle trat, fing er an, den Hund zu schlagen. Das war ein Genuss. Ihre Furcht und ihr Entsetzen waren so groß, dass er sie körperlich spüren konnte. Und der Blick des Welpen erst.
    Zuerst war es Erstaunen, was er in den braunen Hundeaugen sah und dann kam die Gewissheit. Das war der schönste Moment, der Höhepunkt dieses Abends: die Erkenntnis des Welpen, dass sein Leben zu Ende ging. Dass der Mensch, den er für seinen Freund hielt, zu seinem Mörder wurde. Der Köter schien intelligent und das gefiel ihm sehr. Die dummen Hühner, die er ein paar Wochen vorher erledigt hatte, waren bis zum bitteren Ende ahnungslos. Eigentlich war es so schnell vorüber, dass er es kaum genießen konnte, sie sterben zu sehen. Das machte keinen Spaß. Er wollte, dass seine Opfer ihre Situation erkannten. Dass die Panik wie ein Wildbach durch ihre Blutbahnen schoss. Sie mussten wissen, dass sie keine Chance gegen ihn hatten. Er bestimmte den Zeitpunkt ihres Dahinscheidens. Das war es, was ihn antrieb. Immer und immer wieder wollte er diese Situation erleben. Er konnte nicht genug davon bekommen.
    Ein Ast knackte ganz in der Nähe. Vorsichtig beugte er sich vor und spähte durch das undurchdringliche Blätterdickicht der Weide hindurch auf den schmalen Pfad, der direkt an den Blaubeeren vorbeiführte. Da sah er sie.
    Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, hüpfte fröhlich den Weg entlang. Ihr langes, derbes Kleid verfing sich in den Dornen der Pflanzen am Wegesrand, doch das schien sie nicht zu stören. Anhand ihrer Kleidung konnte er erkennen, dass sie ein einfaches Bauernmädchen war. Sicher würde sie niemand vermissen.
    Die Bauern in der Umgebung hatten viele Kinder und Töchter waren wenig willkommen. Die Söhne packten kräftig auf den Feldern mit an, für die Mädchen musste man eine Mitgift zahlen, wenn man sie loswerden wollte. Praktisch würde er ihren Eltern also einen Gefallen tun.
    Das Mädchen blieb abrupt stehen und horchte in den Wald hinein. Für einen kurzen Moment war er sich nicht sicher, ob sie ihn hören konnte, dann ging sie einfach weiter. Direkt vor den duftenden Blaubeeren hielt sie inne. Seine Erregung steigerte sich mit jedem Zentimeter, den sie näher kam. Sie hatte ein Engelsgesicht und in seiner Fantasie stellte er sich vor, sie zu töten. Komm schon, Kleines, greif zu! Die Kleine streckte gerade ihre süßen Finger nach den Früchten aus, als lautes Getrampel sie
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