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Kalter Zwilling

Kalter Zwilling

Titel: Kalter Zwilling
Autoren: Catherine Shepherd
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der Luft und stürzte auf die Knie. Panisch blickte sie sich nach der Alten um. Die humpelte plötzlich viel schneller und kam mit beängstigender Geschwindigkeit näher. Elisa sprang mit letzter Kraft auf. Nur noch ein Schritt.
    Ihr Kopf wurde unsanft nach hinten gezerrt. Die Alte hatte ihren langen Zopf erwischt. Oh nein! Sie versuchte sich loszureißen, doch die Alte hielt ihre Haare fest in den knorrigen Händen. Sie hatte erstaunliche Kraft für ihr hohes Alter.
    »Was sucht Ihr an meiner Hütte? Wollt Ihr etwa meine Eier stehlen? Lumpenpack!« Die Alte zischte böse.
    Einem plötzlichen Instinkt folgend ließ Elisa sich auf die Knie fallen. Die Kraft, mit der ihr Körper nach unten fiel, reichte aus, um sich aus den Fängen der Alten loszureißen. Ihr linkes Knie schlug so hart auf den Boden, dass es augenblicklich zu bluten begann. Der Schmerz ließ für einen Moment grelle Blitze vor ihren Augen tanzen, doch Elisa ignorierte sie. Auf keinen Fall wollte sie in die Fänge dieser alten Hexe geraten. Geschickt rollte sie sich auf die Seite, sprang auf die Füße und erhaschte mit einem langen Ausfallschritt das oberste Ei aus dem Korb.
    »Bleibt stehen!« Mit hochrotem Kopf versuchte die Alte, sich ihr in den Weg zu stellen.
    »Ein Dieb! Haltet sie!« Wild fuchtelnd und laut fluchend kreischte die Alte ihr hinterher, doch Elisa war längst außer Reichweite. Ihr Herz dröhnte und Schweiß lief ihr den Hals hinab. Mit flinken Schritten verschwand sie in dem Gebüsch, aus dem sie gekommen war.
    »Lauf Martha! Sie will uns holen!« Mit diesen Worten riss Elisa ihre jüngere Schwester, die immer noch erstarrt hinter dem Busch kauerte, aus der Bewegungslosigkeit. Völlig außer Atem erreichten die beiden den kleinen Pfad, der zurück ins Dorf führte. Die Alte wohnte außerhalb der dicken Festungsmauern von Zons. Bereits vor etlichen Jahren hatte man sie vor die Stadttore verbannt, da sie als Hexe verschrien war und niemand in ihrer Nähe hausen wollte. Schwer atmend ließ sich Elisa am Stamm einer großen Weide fallen. Ihr Brustkorb hob sich rasend auf und ab, aber ihr Gesicht zeigte ein freudiges Lächeln.
    »Ich habe gewonnen, Schwesterherz! Das Kleid gehört mir.«
    Martha, die sich ausgelaugt neben ihre Schwester fallen ließ, zeigte plötzlich aufgeregt mit dem Finger auf Elisas linkes Bein.
    »Sieh doch dein Knie an. Es blutet wie verrückt.«
    Elisa blickte auf das zerschundene linke Knie. Eine hässliche Wunde klaffte direkt über der Kniescheibe. Vorsichtig tastete sie am Rand der Verletzung entlang. Blut und Schmutz hatten sich zu einer schwarzen Kruste verbunden. Unwillkürlich ergriff sie ihren langen blonden Zopf und erstarrte. Ein wildes Haarbüschel hatte sich herausgelöst und ragte wie die zersplitterten Strohhalme eines abgenutzten Besens aus dem geflochtenen Haar hervor. Im selben Moment spürte sie den dumpfen Schmerz, der auf ihrer Kopfhaut pochte. Die Alte hatte ihr offensichtlich ein ganzes Haarbüschel ausgerissen. Furcht kroch in ihr Herz, und mit einem ängstlichen Blick sah sie zu Martha hinüber.
    »Sie hat Euer Haar und sie hat Euer Blut, seid vor der Hexe auf der Hut! ...«
    Elisa stockte. Es war der Beginn eines uralten Kinderliedes. Plötzlich sah sie sich wieder mit Martha in der großen dunklen Scheune. Wie oft hatten sie im Dunkeln gespielt, sich gegruselt und mit klopfenden Herzen vor Paula versteckt. Paula die Küchenmagd mit der langen Nase und einer dicken roten Warze direkt unter dem rechten Nasenloch. Sie hatte immer die böse Hexe gespielt, die die beiden Mädchen fangen sollte. Bis zu ihrem elften Lebensjahr fand dieses Spiel fast jeden Abend vor dem Schlafengehen statt. Sie verkrochen sich in den dunkelsten Ecken des Gehöftes, um den fürsorglichen Händen der Mutter zu entgehen und noch ein kleines Abenteuer vor dem Zubettgehen zu erleben.
    Elisa hasste die Nachtruhe, sie wurde schon in ihrer Kindheit des Öfteren von Albträumen heimgesucht und so versuchte sie, dem Schlaf so lange wie möglich zu entkommen. Es war immer Paula mit der langen Nase, die schlussendlich die beiden Mädchen einfing und auf das weiche Strohlager brachte, welches den Geschwistern als Schlafplatz diente. Mit dröhnenden Schritten durchschritt die Küchenmagd die Scheune und sang mit rauer Stimme das Hexenlied.
    »Seid auf der Hut!«
    Die Worte klangen mit einer solchen Deutlichkeit in Elisas Ohren, dass sie fast glaubte, wieder das kleine Mädchen zu sein, das sich vor dem Zubettgehen versteckt.
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