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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
Autoren: Werner Toporski
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nicht. Ich finde es schöner, wenn der Baum und alles eine richtige Überraschung ist.
    Es liegt schon Schnee, und die beiden haben eine dicke Spur gezogen, als sie in Schal und Mantel eingemummelt zu dem Tannenwäldchen stapften. Papa ging, die Säge über der Schulter, vornweg und Huppe hinterher, damit er nicht durch den tiefen Schnee musste. Als sie zurückkamen, hatte Papa einen der unteren Äste auf der einen und Huppe einen auf der anderen Seite gepackt, und so zogen sie den Baum, die Spitze nachschleifend, hinter sich her.
    Fast ist in diesem Jahr alles genau wie immer. Nur dass Papa am Neujahrstag wieder an die Front muss. Doch sonst ist nichts anders, und selbst der Weihnachtsnachmittag ist genauso wie letztes Jahr und vorletztes Jahr: nämlich schrecklich! Gott sei Dank werde ich nicht mehr ins Bett geschickt wie die Kleinen. Das war das Schlimmste früher, dass man am Nachmittag schlafen sollte, weil man ja abends länger aufbleiben durfte. Als ob da je einer von uns geschlafen hätte! Und ich wette: Als Papa und Mama Kinder waren und zu Weihnachten ins Bett mussten, haben sie genauso wenig die Augen zugemacht! Bloß haben sie das inzwischen vergessen!
    Na, das bleibt mir inzwischen erspart, aber langweilig ist es trotzdem, weil die Zeit einfach stehen zu bleiben scheint. Und doch ist es schön, wenn dann die Dämmerung kommt und wir ganz gespannt sind, weil wir wissen, dass es nun nicht mehr lange dauern wird, bis das Glöckchen klingelt.
    Und wunderschön ist es, wenn wir dann vor den brennenden Baum treten und jeder von uns ein Gedicht aufsagt, je älter das Kind, desto länger das Gedicht. Und dann singen wir die Weihnachtslieder, die Mama am Klavier begleitet. Sie kann toll spielen! Manchmal kann ich gar nicht richtig weitersingen, denn ich muss beinahe heulen, weil es so schön ist!
     
    Aber auch an den Weihnachtstagen ist irgendetwas anders als sonst. Bei Mama habe ich Tränen in den Augen gesehen, und sie wandte sich ganz schnell ab, damit ich es nicht merke. Und Papa, der früher immer mit uns getobt hat, ist dieses Jahr so ernst.
    Auch wir Kinder – irgendwie hat uns alle eine Unruhe gepackt, vielleicht weil wir wissen, dass Lisa bald mit den Kleinen abreisen wird, und weil wir dann nicht mehr alle beieinander sein werden, nicht mehr alle zusammen spielen können. Natürlich haben wir auch bisher nicht immer alle miteinander gespielt, aber wir hätten es tun können, und wenn wir es einmal wollten, haben wir es eben getan.
    Ein bisschen ist es sogar schön: Wir zanken auf einmal weniger miteinander! Den Streit mit Huppe, als ich ihn so wütend an den Haaren gezogen habe, den kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Das Ungewisse, das in der Luft liegt, hat uns alle ergriffen und lässt uns näher aneinander rücken. Ich brauche die anderen einfach. Ich möchte die Zeit auskosten, solange sie noch da sind, und ich habe das Gefühl, ihnen geht es genauso.
    Und da ist noch etwas: Wir sind alle jetzt ungeheuer wach und aufmerksam! Nichts entgeht unseren Augen und noch weniger unseren Ohren. Wir haben eine Art sechsten Sinn dafür, wenn die Erwachsenen über die Dinge reden, die jetzt wichtig sind, und einer von uns kriegt immer etwas mit.
    Als ich beim Spielen von der Küche her höre, wie Papa fragt: »Wisst ihr schon genau, wann Lisa mit den Kleinen fahren wird?«, hören meine Ohren auf einmal nichts anderes mehr als nur das.
    Mama antwortet irgendetwas, was ich nur halb verstehe, aber dann fällt der Satz:
    »Wären wir bloß niemals hierher gekommen!«
    Ich halte den Atem an, denn ich habe die Eltern noch nie streiten hören, und ich weiß, dass es jetzt passieren wird.
    Papa antwortet und es klingt ziemlich scharf:
    »Ach ja? Hinterher ist man immer schlauer! Du vergisst, dass damals hier eine Aufgabe auf uns wartete, eine wichtige Aufgabe: Neusiedlern helfen! Hätte ich ewig Verwalter bleiben sollen, da in Mauer?«
    Er macht eine Pause. Dann höre ich noch: »Außerdem haben wir hier unseren eigenen Hof bekommen.«
    Wieder Mamas Stimme: »›Unser eigener Hof!‹ Wir haben nicht mal wissen wollen, woher sie ihn denn hatten, als sie ihn uns gaben. – Mein Gott, wie blauäugig sind wir gewesen!«
    Eine Weile ist es still, dann kommt Papa wieder auf das ursprüngliche Thema zurück:
    »Wir müssen die Reise genau planen.«
    Er ruft Lisa aus der Küche. Sie macht die Tür hinter sich zu, sodass ich nichts mehr hören kann.
    Jedenfalls ist es jetzt sicher, dass unsere Familie bald auf die
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