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Kaltduscher

Kaltduscher

Titel: Kaltduscher
Autoren: Matthias Sachau
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nicht gerade. Dass Besucher des Martin-Gropius-Baus Kunstwerke anfassen oder rumbrüllen, kommt so gut wie nie vor. Im Prinzip verbringe ich also vier Tage in der Woche jeweils vier Stunden damit, in einer Ausstellungsraum-Ecke zu sitzen und zu versuchen, gar nicht da zu sein.
    Der schlimmste Feind ist da eigentlich nur die Eintönigkeit, aber auch die macht mir nicht so viel aus. Ich beobachte einfach die Leute und versuche dadurch, meine Schauspieler-Fähigkeiten zu verfeinern. Allein schon an der Art, wie sie die Bilder betrachten, kann ich erkennen, wo sie herkommen, warum sie hier sind und mit welchen Charaktereigenschaften sie ihrer Umwelt Tag für Tag auf den Sack gehen. Und ich könnte sofort von meinem Stuhl aufstehen und ihre Rollen spielen.
    Auch heute wieder. Kaum bin ich aus der U-Bahn raus, in den Martin-Gropius-Bau rein und habe mein Aufpasserjackett übergestreift, sehe ich auch schon den ersten Klassiker: Mann, der Ausstellungen hasst und nur seiner Frau zuliebe mitgegangen ist. Typische leicht ergeben gebückte Haltung. Weit geöffnete Augen suggerieren Aufmerksamkeit, aber wenn man in sie hineinguckt, sieht man nichts als schreckliche, tiefschwarze, gähnende Leere. Alle anderen Körperteile legen ebenfalls Zeugnis über den inneren Zustand des Mannes ab, jedes auf seine Art. Ich kann fast sehen, wie ihm die Worte seiner Frau durch das eine Ohr hinein- und durch das andere wieder herausschweben. Für mich sind alle Feinheiten wichtig. Ein guter Schauspieler spielt immer mit dem ganzen Körper.
    Leider habe ich diese Rolle schon viel zu oft gesehen, um dem Mann noch etwas Neues abzugewinnen. Selbst wenn man mich um vier Uhr nachts mit einem Schwall kaltem Wasser aus dem Bett spülen würde, könnte ich den Mann, der Ausstellungen hasst, sofort spielen. Auch andere Charaktere habe ich bis zum Exzess studiert und geübt: den jungen Mann, der seine Freundin mit seiner Kunstbildung beeindrucken will, den jungen Mann, der wirklich was von Kunst versteht und sich einsilbig gibt, weil er nicht wie ein junger Mann wirken will, der seine Freundin mit seiner Kunstbildung beeindrucken will, den alten Mann, der was von Kunst versteht und keinen hat, dem er seine Gedanken mitteilen kann, oder auch den Reisegruppentourist, der sein Berlin-Programm abreißt und angesichts der altehrwürdigen Martin-Gropius-Bau-Räume verzweifelt versucht, ein Mindestmaß an Haltung einzunehmen – alles tausendmal gesehen. Die Tage, die mir etwas Neues bieten, werden leider immer seltener. Ich hole mal wieder meinen Zeichenblock raus und versuche aus Langeweile hier und da einen Charakter zu malen, aber da kommt selten was Vernünftiges bei raus. Bin halt durch und durch Schauspieler.
    Schade übrigens, dass ich mich heute nicht selber beobachten kann. Junger Mann, der morgens erst nach Gonzo und Tobi aufs Klo durfte, anschließend anderthalb Stunden seinen schlitzohrigen Freund Arne in Manndeckung genommen hat und dabei zehn Kilometer gerannt ist, dann noch während seines Mittagessens einen Berliner-Ensemble-Schauspieler mimen musste und am Ende trotzdem tapfer seinen Job angetreten hat – das wäre wirklich mal was anderes.
    Meinen Zeichenblock verstecke ich zu Hause immer unter meiner Matratze. Sonst findet ihn eines Tages noch unser Radikalästhet und Designpolizist Gonzo und hält mir einen langen Vortrag, warum sich ihm beim Anblick meiner Krakeleien jedes Kinnbarthaar einzeln sträubt. Keine Frage, er selbst hat wirklich Zeichentalent. Er hätte es schon längst verdient, dass er sich nicht mehr von einem schlecht bezahlten Werbegrafikerpraktikum zum nächsten hangeln muss. Und er hätte natürlich auch einen anderen amtlichen Namen als »Karl-Heinz Gonzalez-Viehbauer« verdient.
    Was Letzteres betrifft, konnten wir, im Gegensatz zu seinem Jobproblem, Abhilfe schaffen. Wobei, »Gonzo« passt auch nicht hundert Prozent, muss man sagen. Gonzo hat nämlich von der spanischen Linie seiner Vorfahren etwas geerbt, das das hinfällige, langhakennasige Wesen aus der Muppetshow, an das jeder zuerst denkt, wenn er »Gonzo« hört, nicht mal buchstabieren kann: Jähzorn. Wenn unser Gonzo was in den falschen Hals bekommt, wird er zu etwas wie der Hulk, das HB-Männchen, Käpt’n Haddock, Rumpelstilzchen und Oliver Kahn in einer Person. Hinterher tut ihm zwar immer alles schrecklich leid, aber als er neulich dem Mercedesfahrer, der ihm die Vorfahrt genommen hatte, die Krawatte abgebissen hat, konnten wir einmal mehr nur froh sein,
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