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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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getan: Allein durch Handauflegen hatte sie einen Verwundeten geheilt.
    Michel war Zeuge dieses Vorfalls gewesen - und er hatte zunächst gedacht (obwohl er es niemandem erzählt hatte), er habe die Heilige Mutter Gottes persönlich vor sich gesehen, die von innen her strahlte. Dann war das Bild verblasst, und er hatte erkannt, dass er nur auf eine gewöhnliche Frau in der Ordenstracht der Franziskanerinnen sah. Doch Charles und Chretien hatten behauptet, das Wunder sei durch Hexerei zustande gekommen; daher sei das Strahlen zweifellos ein Glanz gewesen, reine Illusion, um die Leichtgläubigen zu beeindrucken.
    Jetzt, im Vorzimmer des Kerkers, wurde Vater Charles' Gesicht ernst, sein Blick scharf. Er nahm das Taschentuch vom Mund, sodass sein volles, edles Gesicht mit den hageren Wangen und den dicken, kohlschwarzen Brauen zu sehen war.
    »Wir wünschen die Äbtissin jetzt zu sehen«, wies er den Kerkermeister mit sanfter Stimme an.
    »Freilich.« Der Mann seufzte, drehte sich um, wobei der große Schlüsselring an seiner Hüfte klapperte, und ging ihnen langsam voraus - eine Schulter sackte ab, wenn er auf seinen missgestalteten Fuß trat, die andere hob sich, wenn er auf den gesunden trat.
    Charles und Michel folgten ihm den Korridor entlang bis zu einer Steintreppe. Sie wand sich wie ein Schneckenhaus und war noch schmaler als die Gassen der Stadt, sodass die Männer nur hintereinander hinabsteigen konnten.
    Von unten drangen die ungehemmten Schreie einer Frau herauf. Automatisch bekämpfte Michel sein aufsteigendes Mitleid und begann zu beten:
    Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade; der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes...
    Kaum hatte er die Schreie vernommen, bohrten sich Vater Charles' Finger wie die Krallen eines Falken in die Schulter des Kerkermeisters.
    »Habt Ihr noch andere Gefangene außer den Franziskanerschwestern hier?«
    Der Kerkermeister zögerte nur kurz, doch lange genug, dass Charles seine unausgesprochene Antwort sogleich verstand und fortfuhr: »Was stellen die Folterknechte bereits mit meinen Gefangenen an? Sie haben kein Recht, ohne meine Befehle zu handeln!«
    Außer sich vor Wut schnappte Michel nach Luft. Der Kerkermeister zog den Kopf ein und betrachtete verlegen Charles' Schuhe.
    »Sie kamen vor einer Stunde aus Paris, Monseigneur, und verlangten, ich soll ihnen die Nonnen bringen. Ich dachte - und das ist wahr, Seigneur - sie handeln auf Eure Anweisung.«
    »Dem ist nicht so.«
    Der Mann schaute auf, plötzlich begierig, einen Schuldigen zu finden. »Natürlich, ehrwürdiger Vater, jetzt, da Ihr von ihnen sprecht, scheint mir, als wären sie ziemlich betrunken gewesen, als sie die Forderung stellten. Ich vermute, sie kamen direkt aus einer Taverne oder einem Bordell, Herr, und haben die ganze Nacht kein Auge zugetan ...«
    »Bringt mich sofort zu ihnen.« Vater Charles machte eine kurze, heftige Bewegung, sodass der Ärmel seines schwarzen Gewandes hochrutschte, und bedeutete dem Kerkermeister, er solle schweigen und weitergehen, was der Mann auch mit nicht geringem Eifer tat.
    Schließlich gelangten sie an den Fuß der Treppe, die sich zu einem riesigen Keller hin öffnete. Zur Rechten befand sich eine große Gemeinschaftszelle, zur Linken eine Reihe kleinerer Einzelzellen sowie zwei große Doppeltüren, die zum Teil offen standen. Die Luft hier unten war kühler und stank noch bestialischer.
    Verstimmt und mit rotem Gesicht führte der Kerkermeister die beiden Männer in den Korridor zwischen den Einzelzellen und der großen Gemeinschaftszelle, die nur aus einem mit Stroh bedeckten Steinfußboden und Eisenstäben bestand. In ihr drängten sich sechs Nonnen, entblößt bis auf ihr Unterkleid, sie blickten verstohlen und verzweifelt um sich. Allem Anschein nach entstammten alle dem französischen Adel: Sie hatten lange Nasen und zarte Haut, das kurz geschorene Haar betonte ihre weißen, geschwungenen Nacken. Sie entstammten offensichtlich wohlhabenden Familien, waren schon früh einem Kloster übereignet worden und kannten nichts vom Leben außer Nadelarbeit, Lesen und innerer Einkehr. Sie hätten in Fußeisen stecken sollen, saßen jedoch ungefesselt auf dem Stroh, vielleicht ein Zeichen für das uneingestandene Mitgefühl des Kerkermeisters.
    Als Vater Charles und Bruder Michel vorbeigingen, folgten ihnen die Blicke
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