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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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der Nonnen, die Köpfe drehten sich gleichzeitig zu ihnen um. Zwei Schwestern - die eine blond, die andere dunkelhaarig - ließen ihren Tränen freien Lauf, während sie Gebete vor sich hin murmelten. Ihre geschwollenen Augenlider schimmerten rosa wie bei Neugeborenen. Der Ausdruck der anderen Frauen verriet stummes Entsetzen, wie Michel es schon so oft gesehen hatte. Der Kerkermeister blieb vor den Türen zur Folterkammer stehen. Dahinter erscholl lautes Gelächter. Michel konnte nicht länger an sich halten. Obwohl er wusste, dass er eine Rüge seines Meisters riskierte, schoss er vor und riss eine der Türen auf. Sein Blick fiel sogleich auf eine bleiche Gestalt, die, beide Handgelenke in Fesseln, einen halben Fuß über dem Boden an einem über eine Rolle laufenden Seil hing, das ihr die Arme nach oben und nach hinten zugleich zog. Es handelte sich um eine Folterwippe, bei der die Schultern durch das Eigengewicht des Opfers aus den Gelenken gerissen wurden. Die Vorrichtung hatte sich als äußerst wirkungsvoll erwiesen; zum einen führten die ausgerenkten Glieder innerhalb weniger Minuten zu grausamen Qualen, zum anderen verstärkte sich der Schmerz nach der Folter noch, weshalb die Opfer meist aufgaben und gestanden.
    Die Frau in der Folterwippe war offenbar bewusstlos. Ihr Kopf war nach vorn gesunken, das Kinn lag auf dem Schlüsselbein. Unterhalb der kleinen, muschelförmigen Brüste zeichneten sich deutlich die Rippen ab, darunter ein langer, flacher weißer Bauch und hervorstehende Hüftknochen über einem Dreieck goldener Haare. Ihre dünnen Beine waren leicht nach außen gekrümmt und hingen schlaff herab. An der Steinwand dahinter schwankte ihre Silhouette im Schein der Fackel -ein weiblicher Messias, an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Einer der Folterknechte stand vor ihr auf Zehenspitzen und grapschte nach ihren Brüsten. Der Zweite, der offenbar zu betrunken war, um noch aufrecht stehen zu können, rückte gleichwohl eine Kiste hinter sie, während er sich bereits von seinen Beinkleidern zu befreien versuchte.
    »Lasst sie herunter!«, rief Michel, lief in die Zelle und trat mit einer Geschicklichkeit und Kraft, die ihn selbst erstaunte, dem Mann mit der Kiste die Beine unter dem Körper weg. Der andere Folterknecht ließ von seiner Beute ab und wandte sich mit vor Trunkenheit glasigen Augen
    angriffslustig diesem Möchtegern-Retter zu. Michel war groß, doch der zweite Folterknecht überragte ihn und war zudem recht muskulös. Für die Länge eines Herzschlags funkelten die beiden sich an.
    Michel bereitete sich auf den Angriff vor.
    »Lasst sie herunter!«, donnerte Charles vom Eingang her, zornentbrannt wie Jesus Christus, als er die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb.
    Der stehende Folterknecht schob sein dunkelrotes Kinn vor. »Aber man hat uns gesagt ...«
    »Es ist mir einerlei, was andere Euch gesagt haben. Ab sofort hört Ihr nur auf mich.«
    »Aber Ihr ...«
    Vater Charles hob drohend die Hand und gebot Schweigen.
    Trotz Trunkenheit und blinder Lust kamen die Männer zur Besinnung, und der Folterknecht, der Charles für einen gefährlichen Widersacher - wenn auch nicht im Faustkampf - hielt, seufzte und griff nach dem Flaschenzug der Wippe. Die Frau fiel wie eine abgeschnittene Marionette zu Boden. Michel nahm sie in die Arme - ein Häuflein Haut und Knochen -, während der andere Mann ihre Handgelenke von den Ketten befreite. Die Situation hatte nichts Unschickliches: Michel war nicht verlegen, nur entsetzt angesichts ihrer Prellungen, der ausgerenkten Gelenke und der erlittenen Demütigung. Er verbarg ihren Körper so gut es ging mit den Ärmeln seiner Kutte und trug sie an Vater Charles vorbei auf den Korridor. Das Inquisitionsgesetz untersagte Kerkermeistern, Folterknechten und Inquisitoren, Gefangene zu schlagen oder zu vergewaltigen, und dennoch wurden diese Verbrechen nur allzu oft begangen.
    Charles und Michel deckten häufig solche Missetaten auf, die entweder aus Unkenntnis oder offen zur Schau getragener Missachtung der Rechte der Gefangenen verübt wurden. Folter ohne die Anwesenheit oder die Erlaubnis des Inquisitors war strengstens untersagt; die Practica Officii Inquisitionis Hereticae Pravitatis, dreißig Jahre zuvor herausgegeben von Bernard Gui, war in dieser Hinsicht besonders ausführlich und gestand den Angeklagten gewisse Rechte zu.
    Zum einen räumte man ihnen die Möglichkeit ein, vor Anwendung der Folter zu gestehen, zum anderen durfte Folter niemals grundlos
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