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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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ebenso hörten wie ich.
    Edouard schluchzte, als wollte ihm das Herz brechen. Und auch die stummen Tränen der anderen entgingen mir nicht, die ihre Gesichter tief in die Kapuzen drückten, damit ich nicht Zeugin ihrer Verwirrung war. Stumm trennten wir uns, wo Worte nichts mehr ändern konnten. Und so ritten sie dahin, meine tapferen Ritter.
    Drei Männer des Feindes springen von ihren Pferden, ihre Schwerter bohren sie in glitzernde Brombeerbüsche. Die Klingen singen, während Laub und Rinde hoch wirbeln. Niemand liegt dort im Hinterhalt.
    Verwirrt kehren sie zu ihren Pferden zurück und starren mich an, wie ich still dasitze, auf meinem ruhigen Pferd. Und ungeachtet der Dunkelheit erkenne ich die Angst auf ihren Gesichtern. Die Angst vor der Hexe, dem drohenden Zauber, meiner plötzlichen Flucht. Doch einer ist unter ihnen, der keine Angst verspürt. Mein Verfolger: Kardinal Domenico Chretien. Die Farbe des Blutes trägt er auf Kopf und Rücken, nicht finsteres Schwarz wie die anderen. Wie sehr habe ich gelernt, es zu hassen, dieses breite, grobschlächtige Gesicht mit den hässlichen, wulstigen Lippen und den tief liegenden Augen. Auch sein weichlicher Körper täuscht mich nicht über sein hartes Herz.
    Im Befehlston ruft er: »»Ihr seid die Äbtissin Mutter Marie Francoise?«
    Der Feind. Wir sind uns auf diesem Erdenrund erst einmal begegnet, doch alte Bekannte sind wir, seit uralten Zeiten verfeindet. Ihm und seinem Herrn, dem Einen, muss ich Einhalt gebieten, soll unser Geschlecht nicht vom Antlitz der Erde getilgt werden.
    »Die bin ich.« Mit Mühe gelingt es mir, meine Gefühle zu unterdrücken.
    »Ihr seid verhaftet unter dem Verdacht der Ketzerei, Hexerei und maleficium gegen den Heiligen Vater. Habt Ihr etwas dazu zu sagen?«
    »Ihr wisst am besten, wessen ich mich schuldig gemacht habe.«
    Mit finsterer Miene vernimmt er den Sinn hinter meinen Worten, nur mit Mühe hält er die Wut im Zaum. »Ihr kommt mit uns, Äbtissin.«
    Mit einem Nicken gebe ich mein Einverständnis, und trotzdem zerrt man mich grob vom Pferd, das sich unwillig aufbäumt. Mein Hengst indes findet trotz seines Widerstandes freundliche Worte.
    Mir reißen sie den Mantel vom Leibe, der meine dunkle Nonnentracht, den Schleier und die Haube verbirgt. Die Hände werden mir auf den Rücken gezerrt und gefesselt, und mit dem Gesicht nach unten binden sie mich über den Rücken eines ihrer Pferde.
    Wie groß muss ihre Angst vor mir sein ...
    Ein harter Ritt steht mir bevor, mein Gesicht in nasses Pferdefell gedrückt. Heftiger Regen setzt ein. Bald ist meine Tracht auf dem Rücken durchnässt, der ganze Körper schmerzt vor Kälte, und Wasser rinnt mir an den Gliedern herunter. Mein Schleier, vom Regen schwer, fällt zu Boden; meine Haube verrutscht. Schon prasselt der Regen ungehindert auf meinen geschorenen Kopf und dringt mir in Ohren, Nase und Augen.
    Tröstend versichere ich mir: Die Göttin hat es so gewollt. Dies ist die Aufgabe meines Lebens, mir noch vor meiner Geburt bestimmt.
    Die Hufe des Pferdes zermahlen Rosmarin. Ich schließe die brennenden Augen. Der Duft von Rosmarin ruft Erinnerungen wach.
Teil I - CARCASSONNE, FRANKREICH
    Oktober 1357
I
    Im riesigen, viereckigen Schatten der Basilika Saint-Na-zaire, die zwar schon Jahrhunderte alt, aber noch immer nicht fertig gestellt war, verlangsamte Bruder Michel seinen Schritt, um zu beobachten, was gegenüber vom Eingang der Kathedrale vor sich ging. Rasch biss er sich auf die Zunge, damit der einsetzende Schmerz einen Wutanfall verhinderte.
    Auf einem Wall schwangen mehrere Arbeiter ihre Holzhämmer hoch über den Kopf und schlugen damit krachend auf vier Fuß hohe Pfosten ein. Die Herbstsonne war an diesem Tag ungewöhnlich kräftig, die heiße Luft stieg in Schwaden von der zerwühlten Erde auf und schimmerte dunkel um Fußgelenke und Waden der Männer, als wäre das Feuer bereits entfacht. Die Pfosten bildeten den traditionellen Halbkreis, der sich zu den großen Toren der Basilika hin öffnete. Die Kathedrale im Stil des elften Jahrhunderts war ein schwindelnd hoher gotischer Bau mit riesigen, hohen Fenstern, die am oberen Ende, betenden Händen gleich, einen Spitzbogen formten.
    Alle, die sich durch die schmalen, gepflasterten Straßen drängten - Kaufleute, Bauersfrauen mit ihren Kindern, Bettler, Adlige zu Pferd, Mönche in braunen Kutten und Nonnen in schwarzer Ordenstracht - starrten mit offener Neugier auf die Szene. Die Leute trotteten schwerfällig und mit finsteren
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