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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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also. Rigaud war in seiner Angst und Eifersucht fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass die Äbtissin starb, so sehr, dass er sich nicht einmal mehr an den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens hielt.
    Sogleich vernahm Michel in Gedanken Vater Charles' vertraute Mahnung: Du bist zu hitzköpfig, mein Sohn. Du musst lernen, die Superioren zu respektieren. Gott hat sie über dich gesetzt, damit du lernst, dich in Bescheidenheit zu üben.
    Bescheidenheit. Wie konnte man an Bescheidenheit denken, wenn man neben dem Scheiterhaufen kniete, in dessen Flammen ein sich windender Mensch schrie? Nachdem er hatte mit ansehen müssen, wie der erste mit seiner Hilfe verurteilte Mann verbrannt wurde, war Michel in seine Klosterzelle gewankt und hatte sich erbrochen, bis keine Galle mehr kam; danach hatte er eine Stunde oder noch länger würgen müssen. Chretien war ihm gefolgt und hatte ihm den Kopf gehalten. Als Michel anschließend keuchend auf dem mit Brokat bedeckten Schoß des großen Inquisitors lag, hatte dieser ihm die Stirn mit einem kalten Tuch abgewischt und gesagt: Es ist schwer, ich weiß, mein Sohn. Es ist sehr schwer.
    Michel hatte darauf bestanden, den Orden zu verlassen, da er niemals einem so grausamen Ruf folgen könne. Doch Chretien hatte versucht, ihm die Dinge zu erklären: Erstens ruht die Last ihres Todes allein auf meinen Schultern. Sei nicht hoffärtig, Michel, bedenke, dass du nur ein Schreiber bist.
    Zweitens hat Gott uns die schwierigste Aufgabe überhaupt auferlegt, die unseren Mut täglich auf die Probe stellt, und wenn ich einer der Angeklagten wäre, wünschte ich mir jemanden, der so hingebungsvoll und liebevoll Anteil nähme wie du. Denn ich kenne dein gutes Herz. Ich weiß, wie du unablässig für die Sünder betest, und ich weiß, dass Gott dich erhört. Ich habe dich an der Seite der Verurteilten gesehen, als sie im Feuer umkamen, und ich glaube fest daran, dass deine Gebete die Seelen in der Stunde ihres Todes zu Jesus Christus hingeführt haben. Gott hat dir ein besonderes Kreuz auferlegt, das du in diesem Leben zu tragen hast. Wäre es dir lieber, wenn jemand Abgebrühtes und Liebloses deinen Platz einnähme? Oder willst du deine Bürde frohen Mutes tragen und damit das Beste bewirken für all jene, die es am meisten brauchen?
    An dem Tag, an dem du als Säugling vor dem päpstlichen Palast abgelegt wurdest, Michel, hat Gott mir einen Traum gesandt. Ich habe geträumt, dass du der größte aller Inquisitoren wirst, derjenige der dazu ausersehen ist, die Kirche wieder in dem einen wahren Glauben zu einen. Gott hat dich für eine große Mission ausersehen. Darum sei tapfer und flehe ihn an um Kraft.
    Also bemühte sich Michel, seine Empfindungen mit der Aufgabe in Einklang zu bringen, die Gott ihm gestellt hatte, denn er liebte Chretien, seinen Vater, und wusste, dass dieser sehr weise war.
    Die Erinnerung an jenes Gespräch verschmolz mit dem Anblick von Rigaud, der sich gerade von seinem weich gepolsterten Thron erhob, ein schlurfendes Skelett mit hängenden Schultern, in Seide und scharlachroten Samt gekleidet.
    »Drei Tage«, sagte er. »Drei Tage, um von den Frauen Geständnisse zu erlangen und sie dem weltlichen Arm zur Hinrichtung zu übergeben.«
    »Drei Tage ...«, hauchte Charles verblüfft, noch ehe es Michel gelang, dieselben Worte wie ein Echo zu wiederholen. Das war gewiss nicht Chretiens Befehl. »Das wird Euch genügen«, konstatierte der Bischof ungerührt.
    »Aber Eure Heiligkeit«, warf Charles ein, »sechs Frauen und Mutter Marie-Francoise sind betroffen, und oftmals braucht man mehrere Tage, um auch nur ein Geständnis zu entlocken - und da nur ich und Vater Thomas damit befasst sind, kann ich nicht ...«
    »Es wird genügen«, wiederholte Rigaud, diesmal deutete sein Tonfall daraufhin, dass er die Diskussion für beendet hielt. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, hob er die Arme und streckte die Handflächen nach oben, um den beiden jüngeren Männern seinen Segen mit auf den Weg zu geben, wie Michel vermutete.
    Vater Charles' Beispiel folgend, rutschte Michel von seinem Hocker und kniete nieder.
    Etwas Helles, Glänzendes glitt dem alten Mann über die Finger, fiel zehn Zentimeter herab und baumelte dann in der Luft. Ein goldenes Kruzifix an einer Kette - nein, zwei, eines in jeder Hand.
    Der Bischof trat zuerst zu Charles, dann zu Michel und legte sie ihnen feierlich um den Hals. Das Kreuz war zweimal so breit wie Michels Daumen, ungefähr doppelt so lang
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