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Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon

Titel: Kalogridis, Jeanne - Die Seherin von Avignon
Autoren: Unbekannter Autor
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gewiss die kirchlichen Leitsätze beigebracht. Denkt bitte daran. Als die Äbtissin sich damals dem Kloster anschloss, war sie gewiss eine Christin. Somit wurde sie, als sie sich der Hexerei zuwandte, zu einer relapsa.«
    Und mit verwerflicher Hast stopfte er sich einen Löffel voll zermanschter Pastete in den Mund und genoss sie einen Augenblick lang zwischen Zunge und Gaumen, ehe er sie schluckte.
    Relapsa, ein verhängnisvolles Wort. Es bezeichnete eine Seele, die Jesus Christus einmal als ihren Herrn akzeptiert hatte, nur um ihn später abzulehnen - eine abscheuliche »Sünde wider den Heiligen Geist«, die weder Gott noch die Kirche je vergeben konnten. War das Wort relapsa einmal ausgesprochen, folgte die Exekution auf dem Fuße. Michel hatte erwartet, Vater Charles werde sofort zur Verteidigung der Äbtissin anheben, doch der Priester schwieg; da konnte der junge Mönch sich nicht länger beherrschen und entgegnete: »Verzeiht mir, Euer Heiligkeit, doch wie können wir sicher sein, dass sie eine relapsa ist, bevor wir ihr Zeugnis hören?«
    Mit einer fast unmerklichen Bewegung des Kopfes und der Schultern gelang es dem Bischof, den Eindruck zu erwecken, als drohe er ihnen. Aus vorstehenden, vom Alter gezeichneten blauen Augen betrachtete er Michel mit verhohlenem Zorn. »Wollt Ihr Euch und den guten Vater hier in Ungnade bringen? Wollt Ihr das wirklich?«
    »Nein, das will er nicht«, schaltete sich Charles rasch ein. »Er ist eine gute Seele und will nur dafür sorgen, dass alle zu Jesus Christus hingeführt werden. So wie ich, Euer Heiligkeit. «
    »Ein edles Ziel«, räumte der Bischof gnädig ein und lehnte sich leidlich beschwichtigt zurück, »aber eines, das man nicht immer erreichen kann. Ihr seid noch jung, Bruder Michel. Mit der Zeit werdet Ihr einsehen, dass es Seelen gibt, deren Torheit so groß ist, deren Herzen so voller Schändlichkeit sind, dass selbst Gott sie nicht retten kann.« »Wenn aber«, fragte der Schreiber bescheiden, ohne dem Blick des Bischofs zu begegnen, »wenn aber bewiesen werden könnte, dass Mutter Marie nicht relapsa ist ... und dass ihre Handlungen von Gott eingegeben waren, nicht vom Teufel ...«
    »Äußerst schönrednerisch«, antwortete Rigaud und wurde von neuem ärgerlich. »Sie ist schuldig. Es gibt Zeugen. Wenn ich mich nicht irre, seid Ihr sogar einer von ihnen.« Bei diesen Worten neigte Michel demütig das Haupt, obgleich sein Herz in Aufruhr war. Wie konnte der Bischof, ein Dominikaner, sich so sicher sein, dass die Äbtissin schuldig war, ohne sie zuvor zu verhören? Dominikaner verehrten besonders die Mutter Christi von ganzem Herzen, die dem heiligen Dominik einst den Rosenkranz geschenkt hatte, und es hieß, Mutter Marie stehe direkt mit der Jungfrau in Verbindung und sei ihre Stellvertreterin auf Erden. Die Berichte über Wunderheilungen nahmen täglich zu.
    Offensichtlich waren Seine Heiligkeit alt und verwirrt. Gewiss hatte sich Chretien nie derart über die Äbtissin geäußert. Es hätte sogar eines Boten aus Avignon bedurft, der in vollem Galopp durch die Nacht hätte reiten müssen, um Rigaud einen Brief zu bringen, bevor Michel und Charles in Carcassonne eintrafen.
    Neben Michel saß Vater Charles, ruhig, schweigend, unerbittlich.
    Rigaud ließ ein zartes Lächeln auf seinen schmalen, bläulichen Lippen spielen, als wollte er die offenkundige Lüge einräumen und sich zugleich daran laben, dass die beiden Männer niemals wagen würden, ihm zu widersprechen.
    Überraschenderweise besaß er noch fast alle Schneidezähne. Sie hatten die Farbe von Eichenrinde. »Ich weiß, dass ich euch vertrauen kann, Vater, ebenso dem jungen Bruder hier. Ihr werdet schon das Richtige tun. Das gegen den Heiligen Vater begangene Verbrechen reicht für das härteste Urteil aus. Doch da gibt es auch noch den unseligen Umstand des Einflusses, den die Äbtissin auf die Menschen ausübt. Wenn sie überlebt, selbst als Exkommunizierte, bleibt die Möglichkeit eines Volksaufstandes gegen die Kirche bestehen - und sogar die Gefahr, dass sie sich politischen Beistand von gewissen ... irregeführten Superioren sichert.«
    Superioren innerhalb der Kirche, jetzt wusste Michel Bescheid. Rigaud hatte Recht mit der Behauptung, dass die Äbtissin aufgrund ihrer Reputation als Heilige große politische Macht besaß - und zwar so viel, dass sie vor ihrer Verhaftung wesentlich mehr Einfluss auf den Erzbischof von Toulouse ausgeübt hatte als der Bischof von Carcassonne selbst. Das war es
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