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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Autoren: Grafit
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aus und machte sich hinter vorgehaltener Hand über die Nationalsozialisten lustig.
    Meist kam sie unangemeldet, stand unvermittelt vor der Tür, schon bald jedoch trat sie auch ein, ohne anzuklopfen. Gertrud, die sich jedes Mal erschreckte, wenn die Alte plötzlich in der Küche stand, traute sich nichts dagegen zu sagen. Denn auch über die Witwe Janssen erzählte man sich so dieses und jenes in der Kolonie.
    Gertrud wusste, dass die Janssen ihren Mann bei einem Arbeitsunfall in der Zeche verloren hatte, seither beherbergte sie notgedrungen zwei Kostgänger. Die Häuser in der Kolonie waren den Bergleuten vorbehalten, erklärte Arthur, als Gertrud ihn eines Abends danach fragte. Verstarb einer Frau der Mann und niemand im Haushalt arbeitete im Pütt, verlor sie automatisch das Wohnrecht. Mit der Aufnahme der beiden Kumpel hatte die kinderlose Witwe immerhin vermeiden können, aus dem Haus vertrieben zu werden. Zudem besserte das Kostgeld ihre kärgliche Rente beträchtlich auf. Doch die wenig angenehme Situation, nach dem Verlust ihres Gatten mit zwei wildfremden Männern unter einem Dach hausen zu müssen, hatte sie bitter werden lassen. Wohl um allfälligen Gerüchten über sie und ihre Kostgänger vorzubeugen, trug sie stets eine griesgrämige Miene zur Schau, und wenn jemand in der Nachbarschaft beim Obmann wegen irgendeines Vergehens angeschwärzt worden war, konnte man sicher sein, dass die Janssen dahintersteckte.
    Gertrud fiel erst allmählich auf, wie sich die Janssen auch bei ihr umsah, gründlicher als nötig gewesen wäre. Im Vorbeigehen inspizierte sie den Garten, überprüfte die Anzahl der Tiere im Schweinekoben hinter dem Haus und stellte den Kindern verfängliche Fragen. Doch außer dem hin und wieder schwarz geschlachteten Schwein, dem Lohn für ihre nachmittägliche Schufterei auf dem Feld beim Bauern, hatte sich Gertrud nie etwas zuschulden kommen lassen.
    Bis Arthur den Russen mitbrachte. So sehr sie ihren Mann auch liebte, im Verlauf ihrer Ehe hatte Gertrud feststellen müssen, dass er ein zu weiches Herz hatte. Nicht unbedingt eine schlechte Charaktereigenschaft, das war ihr wohl bewusst, aber schließlich herrschte Krieg. Da konnte man sich kein Mitleid leisten.
    Als immer mehr russische Gefangene zur Arbeit in der Zeche gezwungen wurden, kam Arthur oft völlig verstört nach Hause. »Die brechen vor Hunger zusammen!«, berichtete er ihr eines Abends fassungslos. Die Fremden würden schikaniert, manchmal verprügelt oder je nach Gutdünken der Aufseher sogar erschlagen. Jedes Tier würde besser behandelt.
    »Halt dich da raus, hörst du!« Gertrud wusste, dass es strengstens untersagt war, mit Zwangsarbeitern in Kontakt zu treten. In der Kolonie kursierte die Geschichte einer Frau, die mit einem von ihnen angebändelt hatte und in der Folge ins KZ abtransportiert worden war.
    Doch trotz ihrer Warnungen freundete sich ihr Mann mit einem Russen an, einem gewissen Sergej. Manchmal packte er einen Kanten Brot ein, um ihn dem neu gewonnenen Kumpel heimlich zuzustecken, hin und wieder ein Stückchen Wurst. Doch eines Abends kam Arthur ganz aufgeregt hereingestürzt, zog die Vorhänge zu und hastete dann durch die Küche zum Hintereingang, der zum Garten hinausführte.
    Die aufflackernde Angst schnürte Gertrud die Kehle zu, als er den bis auf die Knochen abgemagerten Mann hereinbat. Dieser zierte sich, schaute Gertrud mit seinen tief in den Höhlen liegenden Augen unsicher an und wollte sich nicht einmal setzen. Erst als sie schließlich seufzend eine Schüssel Milchsuppe vor ihn hinstellte, ließ er sich nieder und begann zögerlich, dann gierig das Mahl zu verschlingen. Gertrud sah ihren Mann beklommen an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und griff nach dem Medaillon, das um seinen Hals baumelte, als wollte er sich damit gegen ihren Unmut schützen. Wider Willen musste Gertrud lächeln.
    Suppe lief dem Russen übers Kinn, während er den Löffel immer wieder in den Napf tauchte. Die Kinder stießen sich tuschelnd an und sahen ihm fasziniert dabei zu. Als er fertig war, lehnte er sich mit einem wohligen Seufzer zurück und sah dankbar zu Gertrud auf. Als sich ihre Blicke trafen, zuckte sie erschrocken zurück und wandte sich nach Arthur um. Doch der schien nichts bemerkt zu haben. Für einen Sekundenbruchteil war da etwas in Sergejs Augen aufgeblitzt, das sie erschaudern ließ. Eine ganz andere Art von Hunger. Doch dann war der rohe Ausdruck auch schon wieder verschwunden und sie fragte
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