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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Autoren: Grafit
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Jahres, den viele Zeitgenossen nur teilweise bei Bewusstsein erleben, weil sie noch mit dem Abbau des Restalkohols von der Silvesterfeier beschäftigt sind. Von einem Wendepunkt der mörderischen Art, der in der Nacht auf Neujahr stattfindet, erzählt der Schweizer Sunil Mann in seiner Geschichte, die uns in die deutsche Vergangenheit zurückführt …

Sunil Mann
    Wiedersehen in Ahlen
    Energisch schob er das Kinn vor, hielt die Luft an und holte aus – ein gezielter Hieb mit der Axt zwischen die Augen und das Schwein sackte zusammen. Der Schein der Laterne, die seine Frau mit zittriger Hand hochhielt, kerbte Schatten in Arthurs Gesicht, während er abwartend verharrte, die Axt bereits wieder erhoben, den Körper angespannt für den zweiten Schlag. Doch das Tier regte sich nicht mehr. Rasch legte er das Werkzeug zur Seite und beugte sich über die Sau, um ihr mit einem raschen Schnitt die Kehle zu durchtrennen. Dann richtete er sich schnaufend auf und warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Diese schüttelte beruhigend den Kopf. Außer dem sanften Gluckern des Blutes im bereitgestellten Zuber war nichts zu hören, Stille lag in dieser Juninacht über der Kolonie.
    Sie hatten kein Licht gemacht, um jedes unnötige Risiko zu vermeiden. Im Dunkeln, beschienen nur von einem buttergelben Mond, überbrühten sie das Tier mit kochendem Wasser und schabten dann in mühseliger Arbeit die Borsten mit Dosendeckeln ab. Sie mussten leise sein, das kleinste Geräusch konnte sie verraten. Anschließend schleppten sie das Schwein hinunter in die Waschküche, wo Arthur irgendwann nach Kriegsbeginn dicke Nägel in die Tür geschlagen hatte. Gemeinsam hievten sie das Tier hoch, um es an den Hinterbeinen aufzuhängen. Dann trat sie einen Schritt zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst da bemerkte sie, wie Arthur sie angrinste, auf diese ganz besondere Art, und ehe sie sich wehren konnte, hatte er sie an sich gezogen und küsste sie ungestüm. Was doch der Geruch von Blut und rohem Fleisch in einem Mann auszulösen vermochte!
    »Rasch, wir müssen uns beeilen!«, ermahnte sie ihn flüsternd und stieß ihn von sich weg. Sie konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er nochmals nach ihrem Hintern grabschte. Widerwillig ließ er von ihr ab und griff zum Messer. Mit einer schwungvollen, von oben her geführten Bewegung trieb er dem Schwein die Klinge zwischen die Beine und schlitzte ihm den Bauch bis zum Hals auf.
    Kartoffelschalen, dachte Gertrud, damals habe ich immer Kartoffelschalen auf den Herd geworfen oder Milch verschüttet, damit es so richtig stank. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie das zerlegte Schwein auf Zehenspitzen in die kleine improvisierte Küche unter dem Dach getragen hatten, einen Raum, den sie schon am Tag zuvor mit Decken abgedichtet hatten, um den verlockenden Duft am Entweichen zu hindern, und wo Gertrud im Verborgenen das Fleisch in Gläser einkochte. In diesem warmen Sommer durften sie keine Zeit verlieren, sonst verdarb das Schlachtgut. Der Gestank der Kartoffelschalen sollte derweil verhindern, dass die Nachbarn misstrauisch wurden.
    Denn auf den Hunger folgte der Neid und für ein schwarz geschlachtetes Schwein hätte man ihnen garantiert die Lebensmittelrationen gekürzt.
    Merkwürdig, woran man sich später erinnert, dachte Gertrud und stützte sich auf den Stock, während sie mit schlurfenden Schritten auf das Taxi zuging, das vor der Pension auf sie wartete. Und andere Dinge vergisst man völlig. Oder versucht zumindest, nicht an sie zu denken.
    Die Veranstaltung in der Stadthalle würde erst am Mittag beginnen, doch sie wollte vorher eine kleine Rundfahrt machen. Sie würde immer noch viel zu früh dort sein. Ob er wohl kommen würde? Lebte er überhaupt noch? Ihr Herz begann, heftig zu klopfen. Falls ja, was sollte sie zu ihm sagen? Dass sie vergeblich versucht hatte, ihn ausfindig zu machen? Dass es in den letzten fünfundsechzig Jahren keinen einzigen Tag gegeben hatte, an dem sie nicht an ihn gedacht hatte?
    Bange blickte Gertrud aus dem Fenster, auf Ahlen, das ihr so fremd geworden war. Beinahe hatte sie den Ort nicht mehr erkannt. Wie schnell doch die Jahre vergangen waren.
    »Da wohnen jetzt die Türken«, erklärte der Taxifahrer, dem exotischen Namen auf der Lizenz nach offenbar selbst nicht von hier, als sie ihm die Kolonie als erstes Fahrziel angab. »Zum größten Teil jedenfalls.«
    Ob nach dem Krieg viele Juden zurückgekehrt seien, fragte sie.
    Er zuckte vage
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