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Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI

Titel: Kalendarium des Todes - Mord am Hellweg VI
Autoren: Grafit
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mit den Schultern.
    Wahrscheinlich nicht, dachte Gertrud, weshalb hätten sie auch zurückkommen sollen?
    Ahlen, die erste judenfreie Stadt, damals im Jahr neununddreißig, man war stolz darauf. Nicht unbedingt in der Kolonie, dort stand man den Nationalsozialisten eher kritisch gegenüber, dafür umso mehr auf der anderen Seite der Bahngleise, welche die Stadt schon damals nicht nur geografisch zweiteilte.
    »Hier ist es!«, rief sie, als das Taxi in die Kohlenstraße einbog, und klopfte aufgeregt von hinten an den Fahrersitz. »Halten Sie!«
    Nachdem sie ausgestiegen war, blieb sie in einiger Entfernung von dem Haus stehen, als hielte ein unsichtbarer Zaun sie zurück. Die Fassade war neu gestrichen, ansonsten sah es genauso aus wie damals. Zwar wirkte die Protzkarre vor der Einfahrt fehl am Platz und die schreiend bunten Synthetikvorhänge hinter den Fenstern fand sie schlicht stillos, aber der Charakter der Kolonie, wie die von der Zeche für die Bergleute und ihre Familien erbaute Siedlung genannt wurde, war unverändert: schmale, saubere Sträßchen, an denen sich beinahe identisch aussehende Häuschen mit aufgeräumten Gärtchen eng aneinanderreihten und damit an die sterilen Vororte in amerikanischen Fernsehserien erinnerten.
    Sie wollte sich gerade abwenden, als sich der bunte Vorhang zu bewegen schien. Schlagartig überkam sie ein Gefühl der Beklemmung. So wie damals. Als würde sie beobachtet. Gertrud schnappte nach Luft. Niemand überwachte sie, redete sie sich ein, nicht mehr. Eilig machte sie kehrt, erst als sie das Taxi erreicht hatte, blickte sie nochmals zurück. Der Vorhang regte sich nicht mehr.
    Angst hatte ihren Alltag bestimmt. Angst vor den Bombenangriffen; Angst, dass sie nicht genügend Essen zusammenkriegte und die Kinder hungern mussten, vor allem aber die Angst um Arthur. Dabei hatte die Zukunft so vielversprechend ausgesehen, damals, am schönsten Tag in ihrem Leben.
    Sie hatten bis tief in die Nacht getanzt. Charleston, Walzer, Polka, der Swing kam gerade auf. Sie hatten erst kürzlich das Häuschen in der Kolonie bezogen und Gertrud hatte in Erfahrung gebracht, dass die Witwe Janssen gegenüber als eine der Ersten in der Nachbarschaft ein Grammofon besaß. Nach längerem Zureden und unterstützt durch einen Korb mit Esswaren, hatte die Janssen sich schließlich bereit erklärt, das Erdgeschoss ihres Häuschens für die Feier auszuräumen, und während die Jungen über die improvisierte Tanzfläche wirbelten, wurde im Heim des jungen Paares das Festmahl zubereitet. Immer wieder balancierten die stolzen Mütter üppig mit Fleisch und Bratkartoffeln beladene Platten in den Garten hinter dem Haus, wo Arthur mit seinen Brüdern Tische und Bänke für die Hochzeitsgäste aufgestellt und mit Girlanden und Lampions für ein stimmungsvolles Ambiente gesorgt hatte. Es wurde viel gelacht, getrunken auch, und es war bereits weit nach Mitternacht, als Gertrud unter dem Jubel der Menge eine Schüssel mit gebratenen Heringen gegen den Kater am nächsten Morgen auftrug.
    Nachdem die letzten Gäste endlich aufgebrochen waren, nahm Arthur seine frisch angetraute Frau bei der Hand und führte sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer.
    »Warte, ich hab etwas für dich«, flüsterte sie und überreichte ihm das Geschenk, für welches sie so lange gespart hatte. Verlegen hielt er das Medaillon der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, in der Hand und betrachtete es lange. Da er keine Anstalten machte, es umzulegen, tat sie es schließlich für ihn. Dann klappte sie das mit einem winzigen Riegel verschlossene Schmuckstück wie eine Taschenuhr auf und hielt es ihm hin, damit er sehen konnte, was sie passend zugeschnitten und hineingesteckt hatte.
    »Eine Fotografie von dir?« Seine Stimme klang heiser.
    »So bin ich immer bei dir, unter Tag und auch sonst«, erklärte sie und legte die Hände auf seine Schultern. Als sie ihn küsste, bemerkte sie überrascht, dass seine Wangen tränennass waren.
    Wahrlich der schönste Tag in ihrem Leben, dachte Gertrud wehmütig. Doch dann kam der Krieg und die Dinge begannen, sich zu verändern.
    Am Anfang dachte sie sich nichts dabei, wenn die Witwe Janssen vormittags zu einem Plausch hochkam. Das war eben der Zusammenhalt in der Kolonie, sagte sie sich, der von vielen gepriesen wurde. So erfuhr sie immerhin stets den neusten Klatsch und war bestens darüber informiert, was in der Zeche lief. Die Witwe ließ sich auch mit bissigen Kommentaren über die Nachbarn
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