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K

Titel: K
Autoren: T McCarthy
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verbreitet, einer Sonneneruption. Das statische Rauschen fegt über die Menge hinweg und rast durch Serges Leib, dass es ihm Brust und Glieder zusammenzieht und er sich in Krämpfen windet. Schweiß, Samen oder Sediment quillt aus ihm heraus. Alles quillt: Kaum sind die Kammerwände fortgesprengt, fliegen auf Ministeriumsregalen reihenweise Aktenkisten auf, erbrechen ihren Inhalt; Archive schießen wie Öl aus der Erde; Glaskabinette bersten
und zerspringen; Badewannen schwappen über; Gräber öffnen sich, Tote werden aus der Tiefe katapultiert …
    Das statische Rauschen kehrt zurück: Eine zweite Welle, jetzt in Gegenrichtung, wie ein enormes Echo oder die Rückwelle der ersten Explosion, Luft, von ihrem Atem ausgepresst, wird wieder eingesaugt. Diesmal reißt sie ihn mit: Er spürt, wie er rückwärts durch eine schwarze und endlose Leere wirbelt. Er wird mit ihr eins, wird versengt, durchschossen, carbonisé, zum Tintenmeer, zur Ferne zwischen den Planeten, zum Raum, den Signale durchmessen. Wie die Zeit selbst flacht er aus, wird zu Kohlepapier, zur schwarzen Schmiere zwischen den Blättern, zur Fläche, durch die sich Dinge wiederholen, kopieren, die aber selbst stets schwarz bleibt und leer. Während die Klangwelle sich von ihm entfernt, weiterrast, sieht er rückblickend in der Weite der von ihr geschaffenen Passage Dinge sich duplizieren: Katzen und Telephonkabel, Autos, Tänzer und Flüsse. Sogar die Obstwiese wird verdoppelt: Die Geschwister laufen nicht länger über ihre Wege, sondern sitzen vor einem Spielbrett. All diese Szenen und Objekte wurden innerlich reproduziert, so als wären sie ihm durch eine Art Zeit-Spritze in den Bauch injiziert worden, in dessen Schwärze sie schweben wie kleine, erhellte Bildschirme, gehalten von der Ummantelung einer neuen Spritze, die sie fasst und tiefer nach innen injiziert, wieder und wieder, und je weiter Szenen und Objekte zurückweichen, desto kleiner werden sie. Schließlich sind sie so klein und fern, dass sie dahinschwinden. Von dort, wo er jetzt ist, kann er die Kinder auf der Obstwiese und ihr Spielbrett schrumpfen sehen; sogar die Obstwiese selbst schrumpft und auch die Kabel drum herum. Die Ränder ziehen sich zusammen und formen ein Geviert, das schrumpft, bis es so klein wird, dass es nicht länger wahrzunehmen ist. Dann verblasst das Bild. Auch die Geräusche verhallen; nur Bruchstücke bleiben, kleine Reste, unbestimmte Schallflecken …

    Mitten in der zweiten Nacht nach dem Ablegen wird Dr. Martinow, ein Arzt der Island and Far East Line mit sechsjähriger Berufserfahrung (zuvor auf der Chakdina, davor auf der Aurora), zur Kabine eines kranken Passagiers gerufen. Der junge Mann ist im Delirium, in Schweiß gebadet und die Temperatur zu hoch, als dass man sie (nach Meinung des Arztes) überleben könnte. Chinin würde hier kaum helfen, da die Ursache des Fiebers nicht Malaria ist, sondern ein entzündetes Geschwür am Fußknöchel des Patienten, das wohl sein ganzes Blut vergiftet hat.
    »Tourist?«, fragt er den Steward.
    »Beamter«, erwidert der. »Murmelte irgendwas von Räumen, die bewegt werden.«
    Der durch diese Worte geweckte Kranke versucht zu sprechen.
    »Was war das?«, fragt Martinow.
    Mit halb leerem Blick gibt sich der Mann größte Mühe, doch bringt er nur das Wort »falsch« über die Lippen.
    »Wer ist falsch?«, fragt Martinow.
    Wieder konzentriert sich der junge Mann und stößt diesmal atemlos hervor: » Falsche Kammer .«
    »Wo?«, fragt Martinow.
    » Überall «, erwidert der Mann. » Was wäre keine ?«
    »Was wäre keine … was? Wer ist Ihr nächster Angehöriger?«
    Der junge Mann verdreht die Augen und legt das Gesicht in Falten, die einem Lächeln gleichen. Eine Art Grollen steigt aus seiner Kehle auf; wieder spannt er die Gesichtsmuskeln und bringt die Worte hervor: » Er kam durch .«
    »Durch was?«
    » Durch mich .«
    »Was denn?«
    » Der Koderuf: Ich werde gerufen .«

    Dr. Martinow dreht sich zum Steward um und weist ihn an: »Gehen Sie zum Funker und fragen Sie ihn, ob irgendwas für den Kranken angekommen ist.«
    Der Steward verlässt die Kabine. Während Dr. Martinow auf seine Rückkehr wartet, zieht er einen Stuhl an die Koje, setzt sich und mustert das Gesicht des jungen Mannes. Er hat schon viele Menschen sterben sehen, doch ist es jedes Mal ein wenig anders. Dieser Mann kämpft mit etwas. Zwar wird sein Blick mit jeder verstreichenden Minute leerer und teilnahmsloser, doch hält er den Kiefer stur gereckt
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