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Joyland

Titel: Joyland
Autoren: Stephen King
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sagen. Sobald das Gespenst fortgegangen sei – das war das Wort, das Mike gebraucht hatte; es verschwand nicht, und es ging auch nicht zur Tür hinaus oder sprang durchs Fenster, es ging einfach fort –, hätte er auf die Wechselsprechanlage neben seinem Bett gedrückt. Und sobald Annie dran gewesen sei, hätte er losgeschrien.
    »Das reicht jetzt«, sagte Annie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Sie stand neben der Spüle und hatte die Arme in die Hüften gestemmt.
    »Mir macht das nichts aus, Mama.« Hust-hust. »Wirklich.« Hust-hust-hust.
    »Sie hat recht«, sagte ich. »Es reicht.«
    War Eddie dem Jungen erschienen, weil ich dem übellaunigen alten Sack das Leben gerettet hatte? Es ist schwer, etwas über die Beweggründe derjenigen zu erfahren, die »von uns gegangen« sind (Rozzies Formulierung, die Anführungszeichen stets durch erhobene und nach oben gewandte Handflächen angedeutet), aber ich bezweifle es. Seine Gnadenfrist währte nur eine Woche, und die hat er bestimmt nicht in der Karibik verbracht, wo barbusige Schönheiten ihn verwöhnten. Aber …
    Ich hatte ihn besucht, und war – mit Ausnahme von Fred Dean vielleicht – der Einzige gewesen, der das getan hatte. Ich hatte ihm sogar das Bild seiner Exfrau mitgebracht. Sicher, er hatte sie eine jämmerliche Fotze geschimpft, die immer nur gezetert und hintenrum schlecht über ihr geredet habe. Und vielleicht stimmte das auch, aber wenigstens hatte ich mir Mühe gegeben. Und er letztlich ja auch. Warum, werde ich nie erfahren.
    Während wir zum Flughafen fuhren, beugte sich Mike vom Rücksitz zu uns vor und sagte: »Möchten Sie was Komisches wissen, Dev? Er hat kein einziges Mal Ihren Namen genannt. Er hat immer nur Bürschchen gesagt. Wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich dann schon wüsste, wen er meint.«
    Da hatte er wohl recht.
    Der verdammte Eddie Parks.
    *
    All diese Dinge geschahen vor langer, langer Zeit in einem magischen Jahr, als das Barrel Öl noch elf Dollar kostete. In dem Jahr, als man mir das Herz brach. Das Jahr, in dem ich meine Unschuld verlor. Das Jahr, in dem ich ein nettes kleines Mädchen vor dem Ersticken rettete und einen ziemlich bösartigen alten Mann vor dem Tod durch Herzinfarkt (wenn auch nur vorübergehend). Das Jahr, in dem mich auf dem Riesenrad fast ein Verrückter umgebracht hätte. Das Jahr, in dem ich ein Gespenst sehen wollte, aber keines sah … auch wenn eines wohl immerhin mich gesehen hat. Außerdem war es das Jahr, in dem ich eine Geheimsprache lernte und wie man in einem Hundekostüm tanzt. Das Jahr, in dem ich herausfand, dass es schlimmere Dinge gab, als ein Mädchen zu verlieren.
    Das Jahr, in dem ich einundzwanzig war und trotzdem noch ein Grünschnabel.
    Die Welt hat mir seither ein gutes Leben geschenkt, das will ich nicht abstreiten, aber manchmal ist sie mir trotzdem zuwider. Dick Cheney, Apologet der Wasserfolter und lange Zeit oberster Prediger in der Kirche von »Der Zweck heiligt die Mittel«, hat ein neues Herz bekommen, während ich das schreibe – was soll man dazu sagen? Er lebt weiter; andere Menschen sind gestorben. Talentierte Menschen wie Clarence Clemons. Kluge wie Steve Jobs. Anständige wie mein alter Freund Tom Kennedy. Meistens findet man sich damit ab. Was bleibt einem auch anderes übrig. Wie W. H. Auden gesagt hat – der Schnitter nimmt jeden mit, ob er nun in Geld schwimmt, schreiend komisch ist oder auffallend gut bestückt. Aber damit beginnt Auden seine Liste nicht. Er beginnt sie mit den Jungen, den Unschuldigen.
    Womit wir zu Mike kommen.
    *
    Als ich im Frühjahrssemester wieder an die Uni zurückging, mietete ich mir eine schäbige kleine Wohnung außerhalb des Campus. An einem kühlen Abend Ende März, während ich für mich und das Mädchen, auf das ich flog, gerade eine Chinapfanne zubereitete, klingelte das Telefon. Ich nahm ab und sagte mein gewohntes Sprüchlein auf: »Wormwood Arms, Devin Jones, Inhaber.«
    »Devin? Hier ist Annie Ross.«
    »Annie! Wow! Einen Moment, ich dreh nur schnell das Radio leiser.«
    Jennifer – das Mädchen, auf das ich flog – sah mich fragend an. Ich zwinkerte ihr zu, lächelte breit und griff wieder nach dem Hörer. »Bald sind Semesterferien, und dann hab ich hier noch zwei Tage zu tun, aber dann komme ich gleich. Das ist ein Versprechen – richte ihm das aus. Ich kaufe nächste Woche mein Ti…«
    »Dev. Stopp. Stopp.«
    In dem Moment bemerkte ich den stumpfen Kummer in ihrer Stimme, und meine ganze Freude
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