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Joyland

Titel: Joyland
Autoren: Stephen King
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also zum Kombi und half ihr, sich hinters Steuer zu setzen. Dann ging ich um den Wagen herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Inzwischen hatte ich eine Idee. Sie hatte den Vorzug, dass sie einfach war, und ich glaubte, dass wir damit durchkommen würden. Ich schloss die Tür und zog mein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Als ich es aufklappte, hätte ich es beinahe fallen lassen; ich zitterte wie verrückt. Im Portemonnaie befand sich jede Menge Papier, aber kein Stift.
    »Bitte sag, dass du einen Kuli oder einen Bleistift dabeihast, Annie.«
    »Vielleicht im Handschuhfach. Du musst die Polizei rufen, Dev. Ich muss zu Mike zurück. Wenn sie mich verhaften, weil ich den Tatort verlassen habe … oder wegen Mord…«
    »Niemand wird dich verhaften, Annie. Du hast mir das Leben gerettet.« Während ich redete, kramte ich im Handschuhfach. Ich fand eine Betriebsanleitung für den Wagen, stapelweise Kreditkartenbelege von Tankstellen, Magentabletten, ein Tütchen Treets und sogar ein Pamphlet der Zeugen Jehovas, das mich fragte, ob ich wisse, was mich nach meinem Tod erwartete – aber keinen Stift.
    »In einer solchen Situation … darf man nicht warten … das wurde mir jedenfalls immer eingeschärft …« Ihre Worte kamen stoßweise, weil ihr die Zähne klapperten. »Einfach zielen … und abdrücken … bevor man anfängt … zu hinterfragen … was man da tut … ich wollte ihn zwischen den Augen treffen, aber … der Wind … wahrscheinlich der Wind…«
    Ihre Hand schoss vor, und sie packte mich so fest an der Schulter, dass es wehtat. Ihre Augen waren riesengroß.
    »Hab ich dich auch getroffen, Dev? Dein Gesicht ist voller Blut!«
    »Das war er, nicht du. Er hat mir mit der Pistole eins übergezogen. Annie, hier drin ist nichts zum Schrei…«
    Aber da war doch etwas: ein Kugelschreiber, und zwar ganz hinten. Die Werbung für die Großmarktkette auf der Hülse war abgewetzt, aber noch lesbar: LET'S GO KROGERING! Ich will nicht behaupten, dass der Kuli Annie und Mike Ross ernsthaften Ärger mit der Polizei ersparte, aber er ersparte ihnen viele Fragen, was Annie in jener dunklen, stürmischen Nacht in Joyland zu suchen hatte.
    Ich reichte ihr den Stift und, mit der unbedruckten Seite nach oben, eine Visitenkarte aus meinem Portemonnaie. Als ich zuvor in meinem Wagen gesessen und entsetzliche Angst gehabt hatte, Annie und Mike könnten ermordet werden, weil ich keine neue Batterie besorgt hatte, hatte ich kurz überlegt, ins Haus zurückzurennen und sie anzurufen … nur dass ich eben ihre Nummer nicht gehabt hatte. Jetzt forderte ich sie auf, genau diese aufzuschreiben. »Und darunter schreibst du: Ruf an, wenn sich etwas ändert. «
    Während sie das tat, ließ ich den Motor an und drehte die Heizung voll auf. Sie gab mir die Karte zurück. Ich steckte sie wieder ins Portemonnaie, schob es in die Gesäßtasche und warf den Stift ins Handschuhfach. Dann nahm ich Annie in die Arme und küsste sie auf die kalte Wange. Sie hörte nicht auf zu zittern, beruhigte sich aber ein bisschen.
    »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte ich. »Jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass dir oder Mike deswegen nichts zustößt. Hör mir genau zu.«
    Sie hörte mir genau zu.
    *
    Eine Woche später kehrte der Altweibersommer für ein letztes kurzes Techtelmechtel nach Heaven's Bay zurück. Das Wetter war ideal für eine Mittagsmahlzeit am Strand der viktorianischen Villa, nur dass wir da nicht hinkonnten, weil dort die Reporter und Fotografen auf der Lauer lagen. Was man ihnen nicht untersagen konnte, denn im Unterschied zu den achttausend Quadratmetern des Anwesens war der Strand öffentliches Eigentum. Die Geschichte, wie Annie Lane Hardy (jetzt und immerdar bekannt als der »Kirmesmörder«) mit einem Schuss ausgeschaltet hatte, sorgte im ganzen Land für Aufsehen.
    Nicht alle Artikel waren schlecht. Ganz im Gegenteil. Die Zeitung aus Wilmington titelte TOCHTER DES EVANGELISTEN BUDDY ROSS ERSCHIESST MASSENMÖRDER. Die Post brachte es auf den Punkt: DIE HELDENMAMA! Es schadete nichts, dass Fotografien von Annie aus jüngeren Jahren auftauchten, auf denen sie nicht nur hübsch aussah, sondern geradezu traumhaft schön. Inside View, damals das beliebteste Supermarkt-Werbeblatt mit redaktionellem Teil, brachte eine Sonderausgabe heraus. Sie hatten ein Foto von Annie mit siebzehn ausgegraben, das nach einem Schießwettbewerb aufgenommen worden war. In hautengen Jeans, einem NRA-T-Shirt und Cowboystiefeln stand sie, die uralte
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