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Joyland

Titel: Joyland
Autoren: Stephen King
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darüber, sie zu hören, fiel in sich zusammen. Ich legte die Stirn gegen die Wand und schloss die Augen. Am liebsten hätte ich jedoch das Ohr geschlossen, gegen das ich den Hörer drückte.
    »Dev, Mike ist gestern Abend gestorben. Er …« Ihre Stimme bebte kurz, wurde aber wieder fest. »Vor zwei Tagen hat er starkes Fieber bekommen, und der Arzt hat mir geraten, ihn ins Krankenhaus zu bringen. Nur um auf Nummer sicher zu gehen. Gestern schien es ihm wieder besser zu gehen. Er hat weniger gehustet. Hat sich aufgesetzt und ferngeschaut. Und von irgendeinem großen Basketballturnier erzählt. Dann … gestern Abend…« Sie verstummte. Ich hörte das Kratzen ihres Atems, während sie sich mühsam zusammenriss. Ich versuchte es auch, aber die Tränen liefen bereits. Sie waren warm, fast heiß.
    »Es kam alles sehr plötzlich«, sagte sie. Dann, ganz leise: »Es tut so weh.«
    Eine Hand legte sich mir auf die Schulter. Jennifers Hand. Ich griff danach. Und fragte mich, wer in Chicago eine Hand auf Annies Schulter legen mochte.
    »Ist dein Vater da?«
    »Auf einem Kreuzzug. In Phoenix. Er kommt morgen.«
    »Deine Brüder?«
    »George ist hier. Phil kommt mit dem letzten Flug aus Miami. George und ich sind dort … dort, wo sie … Ich kann das nicht mit ansehen.« Sie schluchzte laut. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete.
    »Annie, kann ich was für dich tun? Ich tu alles. Ganz egal, was.«
    Sie erklärte es mir.
    *
    Schließen wir mit einem sonnigen Tag im April des Jahres 1974. Am Strand von North Carolina zwischen dem Örtchen Heaven's Bay und Joyland, einem Vergnügungspark, der zwei Jahre später seine Tore schließen sollte; die großen Parks haben ihn schließlich in den Bankrott getrieben, trotz allen Anstrengungen von Fred Dean und Brenda Rafferty, ihn zu retten. Schließen wir mit einer schönen Frau in einer verblichenen Jeans und einem jungen Mann in einem Sweatshirt der University of New Hampshire. Der junge Mann hält etwas in der Hand. Am Ende des Plankenwegs liegt ein Jack-Russell-Terrier, die Schnauze auf einer Pfote; ihm scheint jegliche Lebensfreude abhandengekommen zu sein. Auf dem Picknicktisch, wo die Frau einmal Frucht-Smoothies serviert hat, steht eine Keramikurne. Ein bisschen erinnert sie an eine Vase ohne Blumen. Wir schließen nicht genau dort, wo alles anfing, aber ganz in der Nähe. Ganz in der Nähe.
    *
    »Ich habe mich wieder mit meinem Vater zerstritten«, sagte Annie. »Und dieses Mal gibt es keinen Enkel, der uns zusammenbringt. Als er von seinem verfluchten Kreuzzug zurückgekehrt ist und herausgefunden hat, dass ich Mike habe einäschern lassen, ist er ausgerastet.« Sie lächelte matt. »Wenn er etwas früher eingetroffen wäre, hätte er es mir vielleicht ausgeredet. Wahrscheinlich wäre ihm das auch gelungen.«
    »Aber Mike wollte es so.«
    »Seltsame Bitte von einem Jungen in dem Alter, was? Aber ja, er hat sich da sehr klar ausgedrückt. Und wir beide wissen auch, warum.«
    Ja. Ja, das wussten wir. Irgendwann ist der Spaß vorbei, und wenn man die Finsternis auf sich zukriechen sieht, hält man sich an allem fest, was hell und glücklich und gut war. Als würde das Leben von einem davon abhängen.
    »Hast du deinen Vater überhaupt gefragt …«
    »Ob er kommen will? Ja, das habe ich sogar. Mike hätte das gewollt. Daddy hat sich geweigert, an etwas teilzunehmen, was er als heidnische Zeremonie bezeichnet. Ich bin froh darüber.« Sie nahm meine Hand. »Dieser Augenblick gehört uns, Dev. Weil wir hier waren, als er glücklich war.«
    Ich hob ihre Hand an die Lippen, küsste sie, drückte sie kurz und ließ sie los. »Er hat mir genauso das Leben gerettet wie du. Wenn er dich nicht geweckt hätte … wenn er nur einen Moment gezögert hätte …«
    »Ich weiß.«
    »Ohne ihn hätte Eddie nichts für mich tun können. Ich sehe keine Gespenster und höre sie auch nicht. Mike war das Medium.«
    »Es ist so schwer«, sagte sie. »Ihn loszulassen. Selbst das bisschen, was von ihm übrig ist.«
    »Bist du dir sicher, dass du das machen willst?«
    »Ja. Solange ich dazu noch in der Lage bin.«
    Sie nahm die Urne vom Picknicktisch. Milo hob den Kopf und sah sie an – und ließ ihn dann wieder auf die Pfote sinken. Ich weiß nicht, ob er begriffen hat, dass sich in der Urne Mikes sterbliche Überreste befanden, aber dass Mike fort war, das hatte er ganz bestimmt begriffen.
    Ich hielt den Jesus-Drachen hoch, und zwar mit der Rückseite zu Annie. Dort hatte ich, Mikes
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