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Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)

Titel: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman (German Edition)
Autoren: Rainald Goetz
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Wand hing. Noch waren es Gegenstände, zwar handliche, in ihrer Massenhaftigkeit insgesamt aber doch reichlich schwergewichtige Objekte, die Assperg von seinen Druckereien in Krölpa aus quer durch die halbe Welt versendete, um Handel damit zu treiben, dieses Geschäft würde sich grundlegend ändern, das war seit Beginn der 90 er Jahre bekannt, aber wie genau dieser Wandel ausschauen würde, der auf die Informationsindustrien zukam, wusste niemand. Blaschke erbitte Rückruf, möglichst noch vor dem Gespräch mit Thewe, hatte Holtrop von Frau Rösler bestellt bekommen, jetzt war Blaschke nicht erreichbar. Frau Därne brachte Kaffee, Holtrop machte den Fernseher an und stellte den Ton auf stumm. Dann ließ er Thewe kommen.

VI
    Die Türe ging auf, da stand Thewe. »Mein lieber Freund«, sagte er und ging mit jovial raumgreifenden Schritten und ausgebreiteten Armen auf den unbewegt und sehr klein vor dem Fenster stehenden Holtrop zu. Thewe, groß und dunkelhaarig, Ende fünfzig, elegant im Auftritt und in jeder Bewegung, ergriff Holtrops rechte Hand, den Ellbogen, den halben Arm und schüttelte daran viel zu lange. Das war insgesamt eine so inadäquate Begrüßung, dass Holtrop fast Mitleid mit Thewe bekam, der offenbar schon wusste, dass er am morgigen Tag in diesen Büros niemanden mehr begrüßen würde. »Wie gehts dir? Wie war die Fahrt? Wie lief die große Feier gestern?« Thewe spuckte beim Reden, hatte rote Haut im Gesicht, war stark parfümiert. Holtrop setzte sich hinter seinen Schreibtisch, offerierte Thewe den Stuhl davor und legte ein Kuvert auf den Tisch. Dann sagte er: »Du weißt, warum ich hier bin.« Thewe sackte zusammen, erleichtert und schockiert zugleich, hatte sich im selben Moment schon wieder gefasst, nickte Holtrop, dem er dabei zum erstenmal direkt in die Augen schaute, aufmunternd zu und sagte: »Nein, worum geht es denn?« Thewe weigerte sich, sich selbst zu entlassen, wozu Holtrop ihn zu nötigen versuchte. »Gut«, sagte Holtrop, der es als Chef gewöhnt war, dass er nur andeuten, nicht aussprechen musste, was er beschlossen hatte, aber in der Frage unentschieden war, ob man vom Todeskandidaten aus Gründen der Ehre die Selbstexekution erwarten konnte, »es geht um deine Freistellung.« Thewe nickte. Holtrop wartete. Thewe sagte nichts, und Holtrop sagte dann: »Es gibt natürlich verschiedene Modelle, wir würden eine einvernehmliche Lösung vorziehen, sind aber«, dabei lachte er, »wie du selbst weißt, auch zu jedem Streit bereit.« Thewe nickte wieder und sagte weiter nichts. In den wenigen Sekunden, in denen Holtrop geredet hatte, hatte sich Thewes Lage, die sich über die letzten Monate hin immer weiter verschlechtert hatte, schlagartig aufgehellt. Denn Holtrop, und mit ihm ganz Assperg, war jetzt von ihm, Thewe, abhängig, genau umgekehrt wie bisher, das Kräfteverhältnis war in einer fast schon irren, grell auf Thewe einwirkenden Weise auf den Kopf gestellt. Plötzlich war er, was er sein Leben lang nicht gewesen war: ein freier Mensch. Die Angst war weg. Euphorin, die schluchtbekannte Freudedroge, durchflutete die kranken Organe des Körpers von Thewe, sein Hirn. Er war ein freier Mensch, der außerdem auch noch sehr viel wusste. Und zwar über Assperg.
    Holtrop saß konzentriert und böse hinter seinem Schreibtisch. Er hatte auf seinem Weg nach oben nicht wenige Weggefährten am Rand stehen gelassen, so manchen hatte er im Vorbeigehen wegstoßen müssen und genügend viele gegen deren Widerstand auch brutal und eigenhändig in den Abgrund, an dem der gemeinsame Weg nach oben entlangführte, hinuntergestoßen. Er wusste, was in Thewe vorging. Die sogenannten Unregelmäßigkeiten, die Thewe zu verantworten hatte, waren früher stillschweigend akzeptierte, branchenübliche Absprachen, Rabattsysteme, Kickbackgutschriften, Zuwendungen von sogenannten Aufmerksamkeiten, selten auch direkte Geldzahlungen gewesen, die das geschäftliche Miteinander einfach etwas einfacher gestaltet hatten, nur heute passten sie nicht mehr so richtig in die Zeiten. Das war Thewe lange genug signalisiert worden, ausreichend explizit, obwohl in diesem Graubereich um das Korruptionsthema herum das meiste nur indirekt behandelt werden konnte. Aber Thewe war insgesamt nicht mehr der Mann, der in einer so fundamentalen Frage von Firmenphilosophie den nötigen Neuanfang hätte schaffen können. Mit Ende fünfzig war er schlicht auch zu alt, mental erschöpft. Vom Führungsnaturell her war Thewe der Typus des
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