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Jetzt Plus Minus

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Titel: Jetzt Plus Minus
Autoren: Robert Silverberg
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Amulett um.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte sie und gab mir ein Exemplar der Herald Tribune vom übernächsten Freitag. Die Oszillation ergriff sie. Sie verschwand und kam wieder und gab mir die Zeitung vom 19. November. Ihre Augen glänzten vor Erregung. Sie verschwand. Sie brachte mir die Herald Tribune vom 8. November. Vom 4. Dezember. Vom 11. November. Vom 18. Januar 1988. Vom 11. Dezember. Vom 5. März 1988. Vom 22. Dezember. Vom 16. Juni 1997. Vom 14. Dezember. Vom 8. September 1990.
    »Genug!« sagte ich. »Genug!«
    Sie fuhr fort, durch die Zeit hin- und herzujagen. Der Zeitungsstapel wuchs.
    »Ich liebe dich«, keuchte sie und gab mir einen durchsichtigen kleinen Würfel. »Das Wall Street Journal vom 19. Mai 2206«, erklärte sie. »Die Maschine zum Lesen konnte ich nicht bekommen. Entschuldige.« Sie war fort. Sie brachte mir mehr Herald Tribune-Exemplare, von vielen Daten zwischen 1988 und 2002. Dann eine ganze Mikrobandspule. Endlich sank sie erschöpft und betäubt auf das Bett und sagte: »Gib mir das Amulett. Es muß im Umkreis von fünfundzwanzig Zentimetern um meinen Körper sein, um mein Feld zu neutralisieren.« Ich drückte ihr die Scheibe in die Hand.
    »Küß mich«, murmelte Selene.
    Und so ging es. Sie trägt ihr Amulett; wir sind unzertrennlich; ich habe keine Verbindung zu meinen anderen Ichs. Bei meinen Investitionen konsultiere ich nur meinen Stapel Zeitungen, den ich auf Mini-Mikro-Größe habe verkleinern lassen; ich trage ihn in einem Ring, den ich immer bei mir habe. Zur Sicherheit hat Selene ein Duplikat bei sich.
    Wir sind sehr glücklich. Wir sind sehr reich.
    Nur ein Dilemma gibt es. Keiner von uns gebraucht die besondere Gabe, mit der er geboren worden ist. Die Evolution hätte in uns dergleichen nicht hervorgebracht, wenn es nicht verwendet werden sollte. Welche Risiken laufen wir, wenn wir den Plan der Evolution stören?
    Mir fehlt der Gebrauch meiner Kraft, die ihr Amulett löscht, sehr. Selbst die Gesellschaft der göttlichen Selene gleicht den Verlust der Harmonie nicht ganz aus, die aus Jetzt minus n, Jetzt und Jetzt plus n bestand.
    Ich könnte natürlich dafür sorgen, daß ich einmal da, einmal dort eine Stunde von Selene getrennt bin, und den Kontakt wieder aufnehmen. Ich hätte sogar auf diese Weise die Börsenspekulationen fortsetzen können, alle 48 Stunden eine Übermittlung außerhalb der Reichweite des Amuletts. Aber was mir fehlt, ist der fortwährende Kontakt. Die ständige Gegenwart meiner anderen Ichs. Wenn ich diesen Kontakt habe, ist Selene dazu verurteilt, zu oszillieren, oder wir müssen uns trennen.
    Ich möchte auch einen Weg finden, auf dem ihre Gabe nicht Schrecken für sie bedeutet, sondern Freude.
    Vielleicht gibt es eine Lösung. Können außersinnliche Kräfte durch körperliche Nähe ausgelöst werden? Läßt sich Selenes Oszillation auf mich übertragen? Ich bemühe mich angestrengt, sie zu erlangen. Wir arbeiten zusammen, um ihr meine Gabe zu verleihen. Erst heute spürte ich eine Bewegung in mir, vielleicht eine Mikrosekunde in die Zukunft, dann eine Mikrosekunde in die Vergangenheit. Selene sagte, ich sei auf einmal ganz unzweifelhaft verschwommen.
    Wer weiß? Kann uns Erfolg beschieden sein?
    Ich glaube es. Ich glaube, die Liebe wird triumphieren. Ich glaube, ich werde das Geheimnis lernen, wir werden unser Verschwinden abstimmen, Selene und ich, und wir werden gemeinsam oszillieren, wir werden miteinander durch die Zeit jagen, wir werden gleiten und schweben, Hand in Hand durch die Jahrtausende. Sie kann ihr Amulett aufgeben, sobald ich in der Lage bin, ihr auf ihren Reisen zu folgen.
    Bete für uns, Jetzt plus n, mein Bruder, mein anderes Ich, und eines Tages, vielleicht bald, werde ich zu dir kommen und dir die Hand drücken.

Das Menetekel
    Wir verstehen einige ihrer Sprachen, aber keine ganz. Das ist eine der großen Schwierigkeiten. Was von ihrer Epoche auf die unsere gekommen ist, erweist sich als von der Zeit befleckt, gesprenkelt und verwittert, voller Lücken und statischer Störungen; und so können wir die Art ihrer Zivilisation und die Gründe für ihren Zusammenbruch nur annähernd begreifen. Ich fürchte, daß wir zu oft unsere eigenen Wertvorstellungen und Ansichten auf sie zurückprojizieren und uns fälschlich einreden, wir fällten gültige historische Urteile.
    Auf der anderen Seite trägt gerade die Unvollständigkeit des Wissens einen gewissen ästhetischen Lohn in sich.
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