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Jetzt ist gut, Knut (German Edition)

Jetzt ist gut, Knut (German Edition)

Titel: Jetzt ist gut, Knut (German Edition)
Autoren: Bettina Haskamp
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um. Der Schnee war in Schneeregen übergegangen. Das überheizte Großraumabteil roch nach feuchter Wolle und Schweiß. Ich hatte Glück, einen Sitzplatz zu finden. Mir gegenüber saßen zwei junge Mädchen mit Tüten, auf denen Sterne und Weihnachtsmänner prangten. Bisher hatte ich vermieden, an Weihnachten auch nur zu denken.
    Ich faltete meinen Schal, legte ihn zwischen Kopf und Wand und sah aus dem Fenster, um nichts sehen zu müssen. »Den Bilderrahmen für Pascal find ich voll cool.« Es war nicht leicht, das Geplapper der Mädchen über die erstandenen Weihnachtsgeschenke zu überhören.
    Das Fest der Liebe. Wenn ich auf meinen Vater hörte, würde ich es mit Knut verbringen. Und wenn nicht? Ich sah mich Heiligabend in meinem melonengelben Wohnzimmer sitzen – einen Teller Kartoffelsalat samt Würstchen auf den Knien, zwei Katzen und den Fernseher als Gesellschaft. Alternativ in einer Kneipe mit anderen einsamen Hamburgern, die das Fest der Freude in Alkohol ertränkten. Und Silvester? An Silvester mochte ich schon gar nicht denken. Du hast die Wahl, Lilli Karg. Um mich abzulenken, blätterte ich in der Zeitschrift der Bahn. Blöde Idee – die Ausgabe hatte nur ein Thema: Weihnachten. Ich schlug das Heft wieder zu. Theoretisch konnte ich über die Feiertage wieder zu meinen Eltern fahren. Schon bei dem Gedanken bekam ich Gänsehaut. Oder zu Julia nach Zürich. Warum eigentlich nicht? Da könnte ich ihr endlich mal beim Händchenhalten zusehen. Super Idee.
    Zu Hause strichen mir Paul und Paula maunzend um die Beine. »Ihr Armen, vernachlässigt und fast verhungert!« Sie liebten es nicht besonders, nur mit Trockenfutter und Wasser allein gelassen zu werden. Ich füllte ihre Näpfe, reinigte das Katzenklo, spielte ein bisschen mit den beiden und ging in die Küche. Ich war selbst hungrig. Während ich darauf wartete, dass das Nudelwasser kochte, machte ich das Radio an. »Last Christmas, I gave you my heart …« Ich drehte weiter. »I’m dreaming of a white Christmas …« Dieses Weihnachtsgedudel auf allen Kanälen war eine Zumutung. Endlich, ein Wortsender. Mir war ziemlich egal, worüber geredet wurde. Hauptsache, es ging nicht um Weihnachten.
    Eine angenehme Frauenstimme sagte: »Lügen sind lebensnotwendig. Sie erhöhen das Selbstwertgefühl, sie führen zu einem leichteren Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und sie verbessern das Miteinander mit anderen Menschen. Anders drückte es Marcel Proust in seinem Roman ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ aus: ›Die Lüge ist das wichtigste und meistverwendete Werkzeug der Selbsterhaltung.‹ Vielleicht deshalb lügen wir nach Ansicht des amerikanischen Psychologen John Frazer bis zu zweihundert Mal am Tag. – Und damit guten Abend zu unserem Themenschwerpunkt Lügen, Täuschen und Verdecken. Am Mikrophon begrüßt Sie Mareike Müller-Manns.«
    Zweihundert Mal am Tag? Das schaffte ja nicht mal ich. Beeindruckt ließ ich die Tüte mit den Nudeln sinken, die ich gerade in das aufkochende Wasser schütten wollte.
    »Die mentiologische Forschung, benannt nach dem lateinischen Verb mentiri, lügen, unterscheidet verschiedene Kategorien: die Selbstlüge, die Notlüge aus Freundschaft, die Geltungslüge, die Angstlüge und die skrupellose Lüge.«
    Skrupellos. Ich sah das Gesicht von Marie-Anne vor mir. Genau das war sie: eine skrupellose Lügnerin. Und du selbst, fragte eine leise Stimme in meinem Kopf, was bist du?
    Ich drehte den Herd aus, das Radio lauter, setzte mich und hörte zu. »Im Studio begrüße ich jetzt Dr. Eva Stieglitz, unsere Fachfrau für das Lügen. Guten Abend. Frau Dr. Stieglitz, ist es richtig, dass wir die Lüge zur Selbsterhaltung brauchen?« – »Lassen Sie mich zunächst korrigieren, dass in der jüngeren Forschung nicht mehr von zweihundert Lügen am Tag ausgegangen wird. Realistischer ist, dass wir alle etwa zweimal in einem zehnminütigen Gespräch die Unwahrheit sagen.«
    Na, das reichte ja wohl auch noch.
    »Die Lüge ist die bewusste Abwendung von der Wirklichkeit. Schon als Kinder lernen wir, dass es besser sein kann zu lügen. Denken Sie nur, einem Kind rutscht beim Abendessen mit dem Chef heraus: ›Der Papa hat gesagt, der Chef wird immer fauler und fetter.‹ Das käme nicht gut an. Also lernt das Kind, gar nichts oder etwas Höfliches zu sagen. Wir alle lügen oft, um unsere Mitmenschen nicht vor den Kopf zu stoßen, etwa indem wir vorgeben, ein Geschenk zu mögen, das uns in Wirklichkeit nicht
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