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Jerusalem

Titel: Jerusalem
Autoren: Hanns Kneifel
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Gewitterwand.
    »Ich werde morgen bei der Weggabelung sein, unter dem Nussbaum, mein Liebster.«
    Er saß im kurz gefressenen Gras und zerrte den Stiefel am rechten Fuß hoch, sprang auf und hakte die Hände ineinander.
    »Steig auf, Ragenarda.« Sie setzte ihren Fuß in die Steighilfe und schwang sich in den Sattel. »Sag Thybold, dass ich bei Philbert bin. Vielleicht sucht er mich.«
    Sie hielt seine Hand und zügelte den Schimmel. Ihre Blicke kreuzten sich; in ihre Augen traten Tränen und liefen über ihre bräunlichen Wangen. Langsam nickte Ragenarda, dann entzog sie ihm die Hand. Sie gab den Zügel frei, schlug die Fersen in die Flanken des Reittiers und trabte unter den raschelnden Blättern der Eiche hinaus auf den Sandpfad. Jean-Rutgar ließ hilflos die Arme sinken, blinzelte und schloss die Augen, als der Wind eine Wolke aus Staub und Pflanzenresten über die Wasserfläche wehte.
    Auch dieses karge Stück Land würde er verlassen; hier war er aufgewachsen, fünfzehn Jahre lang, kannte jeden Pfad, jede Quelle, jede verwitterte Mauer. Hier hatte er Vögel mit Leimruten gefangen, Wachtelfallen aufgestellt, Hasen in Schlingen erlegt und Paare beim lustvollen Tun beobachtet. Er bewegte sich schnell und unsichtbar wie der Fuchs oder eine wildernde Katze, selbst noch in den Jahren, in denen er vor der Hütte des Mönchs mühsam Lesen und Schreiben gelernt und in Philberts Heiliger Schrift gelesen hatte. Warum musste er fort? Was trieb ihn aus der Umgebung, deren tausend winzige Geheimnisse er besser kannte als jeder andere? Sein Traum, der weiße Burgturm? Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach fernen Ländern, anderen Menschen? Er sah wieder zur drohenden Gewitterwand hinauf und begann zu laufen.
    Die Grillen im Gras und zwischen den Steinen und die Zikaden im Geäst verdoppelten ihr Zirpen und Schnarren. Für einen Augenblick hörte Rutgar die Pferdehufe auf Steinen klappern, von fern polterte leiser Donner. Wenn nicht einmal Thybold, der jüngste von drei Söhnen des Grafen, etwas zu sagen hatte und sich mit den Brosamen begnügen musste, die vom allzu kargen Tisch der Familie für ihn abfielen, dann war es klüger, besseres Leben und größeres Heil in der Fremde zu suchen.
    Hier war es beschwerlich, so wie das schmale Band des Feldes, das hügelan am Waldrand endete; abgesichelt, voller Spelzen und Stoppeln und Staub. Sperlinge pickten zwischen den stacheligen Resten. Die Wipfel der alten Zypressen neben dem Häuschen schwankten im Wind; der Brauch, der dem müden Wanderer durch diese drei Bäume Essen, Wasser und Schlafplatz versprach, stammte von den Römern, hatte Ragenarda ihm erzählt.
    Er überquerte den leeren Streifen und rannte ein gelbes Kornfeld entlang, zwischen umwucherten Felsen hindurch und über die uralte Brücke zu der Hütte, die neben den Resten der Kapelle stand. Sie war schon eine zugewachsene, vom Mistral umheulte Ruine gewesen, als Rutgar den Benediktinermönch das erste Mal besucht hatte; vor neun, zehn Jahren.
    Von Thybold und Ragenarda hatte er gelernt, Pferde richtig zu behandeln und zu reiten. Reitpferde waren teure, wertvolle Geschöpfe, fast so teuer wie eine Rüstung und gute Waffen. Die Familie besaß nicht mehr als zwei alte Wallache. Alles andere wusste er von den Bauern, den Fuhrleuten, Tagelöhnern und Hirten; denn er hatte sich durchgeschlagen, indem er überall dort gearbeitet hatte, wo es etwas zu schuften gab. Er kannte die harte Arbeit der Rhôneschiffer - Nîmes lag nicht allzu weit im Westen - ebenso wie die knochenbrechende Fron der Müller und Winzer und die Erzählungen von fahrenden Spielleuten und Rittern. An all das dachte er, tausend Erlebnisse schossen durch seinen Kopf, als er im Licht des ersten Blitzes über die Stoppeln eines Roggenfeldes auf die Hütte zustolperte. Ein Vogelschwarm stob vom anderen Ende des Feldes auf.
 
    Schwitzend und keuchend ließ sich Rutgar auf die Steinbank fallen. Thybold und er hatten dem Mönch ein einfaches, strohgedecktes Vordach gezimmert, unter dem der Alte im Schatten an seinem Tisch sitzen und ins Land schauen konnte. Auf der Platte stand ein Tonkrug. Rutgar hob ihn an; kühles Wasser. Er trank, leerte ihn halb und setzte ihn ab, als der Weißbärtige aus der Hütte kam und sich unter dem Türstock bückte.
    »Ich bin's, Vater Einsiedel«, sagte Jean-Rutgar mit verlorenem Lächeln. »Gerade noch, bevor das Gewitter niedergeht. Will uns Gott ein Zeichen geben?«
    Der Benediktinermönch setzte sich, legte den Arm um
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