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Jerusalem

Titel: Jerusalem
Autoren: Hanns Kneifel
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goldene Denare.
    Er blickte hoch und in Papst Urbans beherrschtes Gesicht. Die Züge verrieten Klugheit, Entschlusskraft, Listigkeit und, schwer zu verstehen, tiefe Gläubigkeit. Der Heilige Vater war unter dem Pilgerhut fast kahl, bis auf ergraute Haarbüschel über den Ohren, einen langen braunen Bart und einen dichten, dunklen Schnurrbart. Beide Bärte waren gepflegt und schienen gefärbt zu sein. Urbans kräftiger Körper war der eines Zimmermanns im Dachstuhl des Herrn oder eines tapferen Soldaten des wahren Glaubens.
    Rutgar, der den Papst einige Male aus der Nähe erlebt hatte, leutselig, aber in gemessener Ruhe, zweifelte keinen Atemzug lang daran, dass er aus einer langen Rede den entscheidenden Satz, für hundert Probleme den einzigen Ausweg und aus vielen Schwierigkeiten die gerechteste Lösung fand. Von Urbans Begleitern, die bisweilen auf schlammigen Wegen oder wenn es zu steil wurde betend und fluchend an den klobigen Rädern der Wagen gezerrt hatten, hatte Jean-Rutgar einiges aus Urbans Leben erfahren können.
    Im Lenzmond 1088 hatte ihn das Konklave von Terracina zum Papst gewählt. Dass er als Novize in den Gewölben der Abtei Cluny vom einfachen Mönch zum Prior aufgestiegen war, nötigte selbst Kirchenfürsten wie Adhemar von Monteil unendliche Hochachtung ab; der von Monteil war mit dem Grafen von Toulouse, Raimund IV., verschwägert, und Raimunds Bruder war Petrus, ein Cluniazenser Mönch. Jean-Rutgar erkannte an der Seite des Papstes den Bischof der Stadt Le Puy, der Urban den Vortritt ließ und nach ihm die Stufen des Podiums erklomm, kraftvoll, als sei er ein junger Priester; die Kardinäle folgten und stellten sich an drei Seiten des Podiums auf.
    Urban verharrte in der Mitte des Podiums. Dann folgte er der Geste Adhemars und nahm auf den Kissen und Pelzen des prächtigen Thronsessels Platz. Er verhielt eine Weile mit geschlossenen Augen, hob die Arme und begann zu reden. Seine kraftvolle Stimme reichte in der Runde mühelos dreißig Reihen tief. Rutgar verstand, was er sagte, aber die meisten Versammelten um ihn herum kannten die Sprache der Kirchlichen nicht oder nur sehr unvollkommen.
    »Vielgeliebte Brüder! Amtsbrüder im Glauben! Ihr Fürsten Frankreichs! Ihr seid von Gott geliebt und auserwählt, wie viele eurer Taten zeigen. Gottes Liebe erweist sich in der besonderen Lage eures Landes. Dank eures Glaubens und der Auszeichnung durch die Heilige Kirche nehmt ihr unter den Völkern einen besonderen Rang ein.«
    Unruhig schweigend warteten die Versammelten. Der Gipfel des Puy de Dome, gut zwei Wegstunden im Westen, war in den Wolken verschwunden. Die Luft um Rutgar schien zu knistern wie vor einem Wintergewitter. Nie war er von einer solchen Stimmung umgeben gewesen. Urban holte tief Atem und schien mit sichtlicher Zufriedenheit zu erkennen, dass er noch nie vor so vielen Menschen geredet hatte. Tausende Augenpaare blieben auf ihn gerichtet. Graue Wolken schoben sich über die fahle Wintersonne. In den Händen einiger Priester glaubte Rutgar kleine Knäuel roter Bänder zu sehen.
    Die Herrschaft Roms über die Christenheit, für die Urban unentwegt in zähen Gefechten der Macht und des Glaubens kämpfte, stand wegen des Schismas noch auf tönernen Füßen; bis vor einem Jahr hatte Gegenpapst Guibert auf dem Lateran zu Rom regiert.
    Urban rief: »Aus der Christenheit im Osten erreicht uns großes Wehgeschrei. Unsere Brüder im Orient, von Türken und Muselmanen bedrängt, haben uns um Hilfe ersucht. Bis zu den östlichen Stränden des Mare mediterraneum sind die Gottlosen vorgedrungen, bis Romanien und Konstantinopel am Meeresarm Sankt Georgs, Propontis mit anderem, griechischen Namen. Die Perser, die auch Sarazenen, Seldschuken und Türken genannt werden, haben viele Kirchen Gottes im Reich von Alexios, dem Kaiser des oströmischen Reiches, geschändet, sie haben Altäre mit Unrat entheiligt, haben Christen beschnitten, deren Blut auf Altäre und in Taufbecken vergossen - und wir wissen, dass sie mit Vergnügen die Bäuche von Christen aufgeschlitzt, die Gedärme herausgerissen, die Körper gepfählt haben, dass sie mit Pfeilen auf Christen, an Bäume gebunden, geschossen und unzählige Frauen genotzüchtigt haben. Wer soll die Untaten rächen? Wer soll das eroberte Land befreien? Ich stehe hier, um euch den Willen Gottes zu enthüllen!«
    Auf seiner monatelangen, beschwerlichen Reise hatte Rutgar einige von Urbans Reden gehört, schweigend, hinter der letzten Reihe der Versammelten.
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