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Jerusalem

Titel: Jerusalem
Autoren: Hanns Kneifel
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Rutgars Schultern und deutete mit dem Daumen über die Schulter.
    »Nimm's als Zustimmung. Ich hab mein Bündel gepackt. Viel ist's nicht. Und du?«
    Rutgar zuckte mit den Schultern. »Ragenarda bringt meinen Besitz morgen zur Straße. Sie hat auch nicht schwer daran zu tragen.«
    Der Mönch lächelte unter den weißen Bartstoppeln. »Du wirst es vielleicht mit deinen fünfzehn Jahren nicht verstehen, Jean-Rutgar, aber warum sollte Gott dich strafen wollen? Nur weil du mit reinem Herzen diese Frau begehrst? Minne ist keine Sünde. Sie ist niemandes Eheweib.«
    Unverbrüchliche Frömmigkeit und Liebe zu allen Kreaturen, nichts anderes kennt er, dachte Rutgar. Er ist zu gut für die Welt. Philbert mit den tausend Falten im Gesicht, dem schütteren Bart und dem weißen Haarkranz kannte nur Gottes Güte, die sich wie milder Regen auf jedes seiner Geschöpfe senkte. Aber auch Philbert verließ dieses Stück Land, weil er, hinfällig geworden, in diesem gottvergessenen Land verhungern würde, während er sich um seine Schäflein sorgte.
    Jean-Rutgar nickte und antwortete lächelnd: »Du weißt, dass ich mich an die Sprüche deiner Weisheit halte, Vater Philbert.«
    Zwei, drei vielfach verzweigte Blitze und, einige Herzschläge später, laut knatternder Donner bekräftigten seine Worte und machten ihn und den Mönch halb taub. Rutgar unterdrückte sein Erschrecken, ging in die Hütte und holte Oliven, den Ölkrug, Brotfladen und Käse, in ein feuchtes Tuch eingeschlagen. In seinen Ohren klingelte der Nachhall des Donners. Als er das Holzbrett abstellte und das Messer aus dem Stiefelschaft zog, hörte er trotz der klingenden Ohren Hufgetrappel und den Ruf. Er wandte den Kopf und erkannte Thybold im Sattel des schweißnassen Schimmels, den Ragenarda geritten hatte.
    »Schnell, unters Dach!«, rief Rutgar und sprang auf. »Binde den Gaul fest! Wenn er sich losreißt, finden wir ihn nie wieder.«
    Thybold sprengte heran, ritt um die Ecke der Hütte und sprang aus dem Sattel. Die Halbbrüder tauschten eine kurze Umarmung aus. Der Grafensohn, um die zwanzig, schwarzhaarig, mit Nackenzöpfchen und strahlenden blauen Augen, ließ sich von Rutgar helfen und knüpfte einen Leinensack vom Sattel.
    »Braten, Käse und ein paar Trauben«, sagte er lachend und wickelte einen Krug aus der schützenden Strohhülle. »Und ein Schluck Wein. Mehr hab ich nicht finden können.«
    »Gott segne euch zwei!«, rief Philbert. Obwohl er einsam in seiner Hütte lebte, wollte er nicht Eremit oder Einsiedel genannt werden. Er lachte und zeigte auf die Regenwolke. »Lasst uns ein Abschiedsmahl nehmen! Der Himmel schlägt den Takt zu jedem Schluck.«
    Er holte Holzbecher aus der Hütte. Rutgar und Thybold sattelten ab und banden die Zügel am Türpfosten fest. Thybolds schmales Gesicht zeigte, dass er am liebsten mit Rutgar mitgeritten wäre, aber nicht zu den frommen Brüdern. Seine Falkennase schien erlebnisgierig in die Ferne hinauszuwittern.
    Die tiefschwarze Wolkenmasse schob sich von Sonnenuntergang her blitzend und donnernd heran, aber noch ohne einen einzigen Tropfen. Der Wind fing sich unter dem vorspringenden Dach, als Rutgar die Becher füllte, den Weinstrahl mit der flachen Hand vor dem Sturm schirmend.
 
    Das Gewitter tobte die halbe Nacht, mit zahllosen Blitzen, strömendem Regen und unablässigem Donner, als wolle die Welt untergehen. Die drei saßen im flackernden Dunkel hinter den Tropfenvorhängen, die wie Wasserfälle vom Dach plätscherten. Rutgar und Thybold redeten und sprachen sich gegenseitig Mut zu, versuchten den Sinn der Welt zu erkennen, noch ehe sie sich in der Fremde umgesehen hatten. Auch Thybold wollte Les-Baux verlassen, nach dem Winter, aber Rutgars Weg zu den Benediktinern war nicht seiner; er blieb unentschlossen. Der letzte Schluck Wein schmeckte sauer und rau, als sollte Jean-Rutgar auf die nächsten Jahre vorbereitet werden.
 
    Um Mitternacht war die schwarze Wettermauer weitergezogen, und auch der Regen verlor allmählich seine Gewalt. Im ersten Morgengrauen sattelte Thybold den Schimmel, nachdem sie das triefende Tier trocken gerieben hatten. Sie hängten ihre Bündel an den Sattel und wanderten durch die Wildnis aus Fels, tropfenden Krüppeleichen und wilden Ölbäumen nach Süden, zur Wegscheide, wo Ragenarda neben dem Gespann des Händlers wartete.
    Der Abschied, voll brennender Blicke und verzagten Flüsterns, zerriss Rutgars Herz, aber der Händler drängte. Von den ersten Sonnenstrahlen geblendet, wandte
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