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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits
Autoren: Meg Cabot
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vergaß.
    Unterdessen streichelte er die unverkennbar tote Taube. Ihr Kopf rollte schlaff auf seiner Handfläche hin und her, das Genick war gebrochen.
    »Niemand kann das.«
    »Ich schon«, widersprach er. »Wenn du es willst.«
    »O ja, bitte«, flüsterte ich und sah, wie er noch einmal den Vogel streichelte. Kaum eine Sekunde später schoss der Kopf der Taube in die Höhe, ihre Augen leuchteten wieder, und sie erhob sich mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in den strahlend blauen Himmel.
    Ich war so begeistert, dass ich schrie: »Machen Sie das nochmal!«
    »Das kann ich nicht«, erwiderte er und stand wieder auf. »Sie ist weg.«
    Ich dachte kurz nach, streckte meine kleinen Finger aus und zupfte ihn am Ärmel. »Können Sie das auch mit meinem Opa machen? Sie haben ihn gerade erst hier reingelegt.« Ich deutete auf ein Mausoleum am anderen Ende des Friedhofs.
    »Nein. Tut mir leid«, erwiderte er, nicht ohne Mitgefühl.
    »Aber meine Mom wäre so glücklich. Und Oma auch. Bitte. Es dauert doch nur eine Sekunde.«
    »Nein«, wiederholte er und sah plötzlich irgendwie erschrocken aus. Er kniete sich noch einmal neben mich. »Wie heißt du?«
    »Pierce«, antwortete ich. »Aber …«
    »Nun, Pierce«, sagte er, seine Augen waren von der gleichen Farbe wie die Kufen der Schlittschuhe, die ich zu Hause in Connecticut hatte, »dein Großvater wäre sicher stolz auf dich. Aber wir lassen ihn besser da, wo er ist. Deine Mom und deine Oma würden sich ganz schön erschrecken, wenn sie ihn plötzlich wieder herumlaufen sehen, nachdem er bereits unter der Erde war, meinst du nicht?«
    Daran hatte ich natürlich nicht gedacht, und er hatte wohl recht.
    Und dann kam Oma, um mich zu suchen. Der Mann hatte sie gesehen. Er musste sie gesehen haben und sie ihn, denn sie sagten beide höflich »Guten Tag«, dann drehte sich der Mann um, verabschiedete sich von mir und ging davon.
    »Pierce«, fragte Oma, als sie bei mir war, »weißt du, wer das war?«
    »Nein«, antwortete ich. Aber ich erzählte ihr alles andere und vor allem von dem Wunder, das der Fremde vollbracht hatte.
    »Und, magst du ihn?«, fragte Oma, als ich am Ende meiner atemlosen Erzählung angelangt war.
    »Weiß nicht«, erwiderte ich. Die Frage verwirrte mich. Einerseits hatte er einen toten Vogel wieder zum Leben erweckt. Doch andererseits hatte er sich geweigert, dasselbe auch mit Opa zu machen. Das war ein gewisses Problem.
    Oma lächelte zum ersten Mal an diesem Tag. »Das wirst du noch«, sagte sie. Dann nahm sie meine Hand und ging mit mir zum Auto, wo Mom und Alex schon warteten.
    Ich erinnere mich noch, wie ich über die Schulter schaute: keine Spur mehr von dem Mann, nur die scharlachroten Blüten an den gewundenen Ästen eines tropischen Flammenbaums, die wie ein Zeltdach über unseren Köpfen hingen, wie ein rotes Feuerwerk vor dem strahlend blauen Himmel …
    Und mittlerweile behauptete Oma, so wie jeder andere, dem ich erzähle, was ich gesehen hatte, als ich starb – nämlich kein Licht, sondern einen Mann –, felsenfest, ich hätte mir das Ganze nur eingebildet.
    »Da war ganz sicher kein Mann auf dem Friedhof, der einen toten Vogel wieder zum Leben erweckt hat«, sagte sie kopfschüttelnd an jenem Tag, als wir in ihrer Küche waren. »Wer glaubt denn an sowas? Weißt du, Pierce, ich mache mir Sorgen um dich. Den ganzen Tag träumst du vor dich hin … und seit deinem Unfall, habe ich gehört, ist es sogar noch schlimmer geworden. Und glaub ja nicht, dass dich allein dein Aussehen im Leben weiterbringen wird. Deine Mutter ist hübsch und klug, und sieh nur, wohin es sie gebracht hat. Hübsch sein ist schön und gut, aber nur, solange der reiche Göttergatte nicht eines Tages beschließt, die eigene Tochter ertrinken zu lassen.«
    »Oma«, sagte ich und versuchte, möglichst ruhig zu bleiben. »Wie kannst du behaupten, der Mann wäre überhaupt nicht da gewesen, wo du mich doch damals selbst gefragt hast, ob ich …«
    »Ich hoffe wirklich, dass die neue Schule dir guttut, Pierce«, unterbrach mich Oma. »Auf deiner letzten hast du ja alle Brücken hinter dir niedergebrannt, könnte man sagen, oder etwa nicht?« Sie drückte mir ein Tablett mit Sandwiches in die Hand. »Und jetzt bring das deinem Onkel, bevor er verhungert. Er hat seit dem Frühstück nicht einen Bissen zu essen bekommen.«
    Nach dieser Ansprache verließ ich sofort das Haus, natürlich erst, nachdem ich die Sandwiches abgeliefert hatte, und machte mich auf meinem Rad auf
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