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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits
Autoren: Meg Cabot
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Grund, warum ich, nachdem ich von der Party geflohen war, sofort in die Bremsen griff, als ich sie wiedersah – die Flammenbaumblüten natürlich, nicht die Fransen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich bis zum Friedhof geradelt war. Es waren meine Beine, die mich vollkommen unbewusst dorthin gebracht hatten. Und ich wusste genau, warum. Denn es war nicht zum ersten Mal geschehen.
    Seit meinem Umzug nach Isla Huesos war ich schon mehrmals zum Friedhof gefahren. Mom hatte ihn sogar eigens in die kleine Orientierungstour aufgenommen, die sie mir kurz nach meiner Ankunft gegeben hatte. Es gab dort nur Mausoleen und oberirdische Grüfte, weshalb der Friedhof schnell zu einer der touristischen Hauptattraktionen der Insel geworden war. Im Lauf der Zeit hatten die Bewohner von Isla Huesos nämlich herausgefunden, dass es keine gute Idee ist, auf einer von Hurrikans geplagten Insel wie dieser die Toten einfach in Särgen unter der Erde zu begraben, denn die Stürme graben sie unweigerlich wieder aus, und eines Tages findet man dann die Knochen seiner geliebten Angehörigen in einer Baumkrone wieder oder in den Maschen eines Zauns hängend, und manchmal sogar am Strand. Wie in einem richtigen Horrorfilm.
    »Deshalb«, hatte Mom mir erklärt, »haben die spanischen Eroberer die Insel Isla Huesos genannt, Knocheninsel. Als sie hier ankamen, sahen sie überall Menschenknochen herumliegen. Wahrscheinlich hatte ein Sturm erst kurz vor ihrer Ankunft einen Eingeborenenfriedhof verwüstet.«
    Aber obwohl ich, wie gesagt, schon mehrere Male über den Friedhof geradelt war, hatte ich es bisher nicht geschafft, den Baum wiederzufinden, den ich als kleines Mädchen gesehen hatte. Nicht bis zu dem Tag der Party.
    Was genau der Grund war, der mich hierhergetrieben hatte.
    »Halt unterwegs nicht an, Liebes«, hatte Mom zu mir gesagt. »Bleib auf dem Rad«, hatte sie gesagt. »Ein Sturm zieht auf.«
    Und jetzt, da ich vor dem Flammenbaum stand, sah ich, dass mehr als nur der Sturm heraufzog, den Mom gemeint hatte. Etwas viel, viel Schlimmeres. Fast alle Blüten waren herabgefallen, lagen trocken und verwelkt vor meinen Füßen wie ein roter Teppich und flüsterten einander zu, während der Wind sie aufscheuchte und über den asphaltierten Weg blies.
    Das Mausoleum neben dem Baum sah beinahe noch genauso aus wie an dem Tag von Großvaters Beerdigung. Immer noch bröckelte der Putz an einigen Stellen ab, und darunter lugten Ziegelsteine hervor, genauso rot wie die Blütenblätter am Boden. Der einzige wirkliche Unterschied war, dass ich diesmal auf dem verschnörkelten schmiedeeisernen Tor unter dem Gewölbebogen einen in Großbuchstaben eingravierten Namen sah. Kein Datum, nur einen Namen: HAYDEN .
    Damals, mit sieben, war mir der Name nicht aufgefallen. Ich war viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, ganz ähnlich wie in den letzten Wochen. Da war ich auch immer wieder durch den Friedhof geradelt und hatte dabei jedes Mal den Baum übersehen.
    »Er war nicht echt, Pierce.« Nicht nur Oma hatte das an jenem Tag in ihrer Küche gesagt, sondern auch alle Psychiater, zu denen meine armen Eltern mich nach meinem Unfall schleppten, weil sie nicht bereit waren, sich mit den Berichten meiner Lehrer abzufinden, die besagten, ihre geliebte Tochter würde in der Schule keine überdurchschnittlichen, ja nicht mal durchschnittliche Leistungen bringen. Patienten, deren Hirn- oder Herzfunktion einmal, wenn auch nur für den kürzesten Moment, unterbrochen gewesen war, berichteten oft von Halluzinationen während ihres Nahtod-Zustandes. Aber, um meinen geistigen Genesungsprozess voranzutreiben, so die Psychiater, müsse ich mir unbedingt immer wieder vergegenwärtigen, dass alles nur ein Traum gewesen war. Natürlich sei mir das alles sehr real vorgekommen, aber ob ich denn nicht sehen könne, dass in diesen Halluzinationen während meiner Nahtod-Erfahrung einige Dinge aufgetaucht seien, die ich in Schulbüchern gelesen, im Fernsehen gesehen oder vielleicht Jahre zuvor zufällig beobachtet hatte?
    All das fragten sie mich, und dabei hatte ich ihnen noch nicht mal von dem Ereignis nach Großvaters Beerdigung erzählt.
    Das sollte ich immer bedenken, erklärten sie mir, und auch die Tatsache, dass ich während der Ereignisse stets die Kontrolle über meine Handlungen gehabt hatte, was ein weiteres Kennzeichen eines Klartraums sei. Wäre das, was mit mir vermeintlich passiert war, real gewesen, wäre ich meinem Entführer niemals entkommen.
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