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Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits
Autoren: Meg Cabot
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Reue über das, was er mir hatte antun wollen. Also hatte ich wohl falschgelegen.
    »Sieh mal«, sagte ich, nun selbst ein bisschen wütend, weil er kein Recht hatte, mich so zu behandeln. Er hatte mich erschreckt, und ich hatte geschrien, okay. Aber er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass ich auf der Insel war, und war nicht mal vorbeigekommen, um Hallo zu sagen? Nicht dass ich das gewollt hätte, denn jedes Mal, wenn er auftauchte, kam jemand zu Schaden.
    Trotzdem.
    »Ich war gerade in der Nähe und dachte, ich schaue mal vorbei, um mich zu vergewissern, dass alles zwischen uns, du weißt schon …« Erst jetzt merkte ich, wie sehr ich gerade an meinem eigenen Grab schaufelte. Warum nur hatte ich nicht auf Mom gehört und war einfach auf meinem Fahrrad geblieben? »Dass es kein böses Blut mehr zwischen uns gibt.«
    Er starrte mich unbeirrt weiter an. »Kein böses Blut also«, wiederholte er.
    »Genau«, erwiderte ich. Die Begegnung verlief noch viel schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können, und immerhin stand ich in dem Ruf, eine recht lebhafte Fantasie zu haben. »Ich bin über das weg, was du mir angetan hast. Und ich wollte, dass du weißt, dass das, was ich dir angetan habe … was passiert ist, als ich … du weißt schon. Weggegangen bin. Dass das nichts Persönliches war.«
    »Ja klar, schon kapiert«, sagte er nur, in einem Tonfall, der genauso unterkühlt war wie sein starrer Blick. »Es war nichts Persönliches. Du hast eine Entscheidung getroffen und dann danach gehandelt.« Er zuckte die Achseln und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.«
    Das hatte gesessen. Eine gute Art, mein Verhalten an jenem Tag zu beschreiben. Es war nichts Persönliches. Du hast deine Entscheidung getroffen und dann danach gehandelt . Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Mein Gott, würde ich jetzt auch noch vor ihm zu heulen anfangen? Mom wollte, dass es ein perfekter Abend wurde, und meiner war gerade auf dem besten Weg dazu. Ich war dabei, einfach alles perfekt zu vermasseln.
    »Ich war fünfzehn«, sagte ich und versuchte mit wenig Erfolg, meine Fassung wiederzuerlangen. Ich hatte dieses Gespräch so oft im Kopf durchgespielt, dass ich es mittlerweile eigentlich aus dem Effeff beherrschen sollte. Das einzige Problem war: Im echten Leben liefen Gespräche mit ihm selten so ab wie in meinem Kopf. »Gibt es irgendjemanden auf der Welt, der mit fünfzehn schon für so eine Art von Beziehung bereit ist?«
    »Wäre es mit siebzehn leichter?«, fragte er bissig zurück.
    Außer mir vor Angst schrie ich: »Was? Nein!«
    »Tja«, meinte er nur, »irgendwie ist das schon eine seltsame Art, mir zu zeigen, dass du angeblich noch nicht bereit bist zu sterben, findest du nicht?«
    Ich blickte ihm fest in die toten Augen. »Und was soll das jetzt bedeuten?«
    »Nur, dass die meisten Menschen, die irgendeinen gesteigerten Wert auf ihr Weiterleben legen, sich nicht nachts auf Friedhöfen rumtreiben. Aber andererseits, was sollte ich von dir auch anderes erwarten?«
    Auf dem etwa ein halbes Dutzend Hektar großen Friedhof gab es keine einzige Überwachungskamera und auch kein Sicherheitspersonal. Der Friedhofsaufseher ging jeden Abend pünktlich um sechs nach Hause, wie er mir einigermaßen gereizt mitgeteilt hatte, nachdem er mich eines Abends in hohem Bogen rausgeworfen hatte. Er war gerade dabei gewesen, das Tor abzuschließen, und hatte mir noch eine Extra-Standpauke gehalten, weil ich, wie er das ausdrückte, einen »Ort der Ruhe und Andacht« als öffentlichen Durchgangsweg missbrauchte.
    Wenn er also beschloss, mich mit in seine Welt zu nehmen – was aller Wahrscheinlichkeit nach durchaus in seiner Macht stand –, wäre niemand da, um mich zu retten, außer irgendein Betrunkener, der gerade hinter der Kapelle seinen Rausch ausschlief, würde meinen Schrei hören und die Polizei rufen.
    Guten Abend. Heute jährt sich zum zehnten Mal das mysteriöse Verschwinden der siebzehnjährigen Pierce Oliviera, die spurlos von der kleinen Insel Isla Huesos vor der Küste Floridas verschwand, als sie in einer heißen Septembernacht einen scheinbar harmlosen Fahrradausflug unternahm …
    »Willst du mir drohen?«, fragte ich aufgebracht und stemmte die Hände in die Hüften in dem Versuch, entschlossener auszusehen, als ich in Wirklichkeit war. Denn was ich tatsächlich fühlte, war nackte Angst.
    Ich hatte gar nicht gemerkt, wie er näher gekommen war, während er sprach,
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