Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits

Jenseits

Titel: Jenseits
Autoren: Meg Cabot
Vom Netzwerk:
Also müsste ich mir schlussendlich keine Sorgen machen: Mein Entführer könnte gar nicht zurückkehren, weil er nichts anderes sei als eine Ausgeburt meiner Fantasie!
    So hatte ich unzählige Male meinen Psychiatern gegenübergesessen und bei ihren Ausführungen brav genickt. Sie hatten natürlich recht. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.
    Aber dennoch, irgendwo tief in meinem Inneren … taten sie mir so leid. Die Wände ihrer Sprechzimmer waren über und über geschmückt mit Diplomen und Titeln, manche davon stammten sogar von einer jener Elite-Unis, auf die meine Eltern mich so verzweifelt gerne schicken wollten, und genau das war es, was mich am allertraurigsten machte: dass meine Eltern nicht kapierten, wie unwichtig das alles war, all die Diplome, all die Titel. Denn trotz allem hatten meine Ärzte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redeten.
    Aber ich hatte den Beweis, hatte ihn schon immer.
    Ich stand unter dem Flammenbaum vor dem Eingang des Mausoleums und konnte endlich die oberen Knöpfe meines zu engen Kleides aufmachen, das ich, Moms Wunsch brav Folge leistend, zu der Party getragen hatte, und dabei spürte ich ihn unter meinen Fingern. Ich hätte ihn jederzeit herausziehen, ihn während einer meiner vielen Sitzungen vorzeigen und fragen können: »Na, was sagen Sie jetzt, Doktor? Klarträume? Glauben Sie das jetzt immer noch?«
    Aber ich habe es nie getan, sondern ließ ihn einfach dort, wo er immer war: unter dem Stoff meines Oberteils versteckt. Weil alle meine Ärzte, auch wenn sie mir nicht glaubten, sich wirklich bemühten, mir zu helfen. Sie waren richtig nett, und ich wollte nicht, dass ihnen etwas zustieß.
    Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass Leuten, die sich zu sehr für meine Halskette interessierten, nichts Gutes blühte. Also hatte ich es schließlich bleiben lassen und sie niemandem mehr gezeigt. Nicht einmal Oma bei unserem »Gespräch« in der Küche. Es hätte ihre Meinung sowieso nicht geändert.
    Erst jetzt, als ich erneut vor dem Mausoleum stand, vor dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, kam mir der Gedanke, dass ich diejenige sein könnte, die all das Böse verursachte. Weil ich zurückgekommen war, und zwar nicht nur von den Toten, sondern auch noch zu dem Ort, an dem alles seinen Anfang genommen hatte.
    Was machte ich überhaupt hier? War ich am Ende doch so verrückt, wie mein gesamtes Umfeld in Connecticut behauptet hatte? Immerhin war ich allein auf einem Friedhof, und das nach Einbruch der Dunkelheit. Ich musste schleunigst weg von hier, rennen, so schnell ich konnte, jedes einzelne Haar auf meinem Körper stand zu Berge und schrie danach.
    Aber da war es natürlich schon zu spät, denn es kam bereits jemand. Ich hörte, wie die welken Blütenblätter unter seinen Schritten raschelten und knirschten. Wie Knochen. So hörte sich das Geräusch an, mit dem er über die vertrockneten Blüten trampelte. Sie zu Staub zermalmte.
    Bei Gott, warum hatte mir meine Mutter ausgerechnet diese Geschichte erzählt? Warum in aller Welt konnte ich nicht eine ganz normale Mutter haben, die mir ganz normale Märchen erzählte, die von Stiefmüttern und gläsernen Schuhen handelten, und nicht diese Gruselgeschichte über Teile von Menschenskeletten, die an Stränden herumliegen?
    Ich musste mich nicht erst umdrehen, um zu sehen, wer es war. Das wusste ich auch so. Selbstverständlich tat ich das. Dennoch war der gellende Schrei, den ich ausstieß, als ich schließlich herumwirbelte und sein Gesicht erblickte, laut genug, um selbst die Toten zu wecken.

Es schien, daß er sich gegen mich bewegte,
    Erhobnen Haupt’s und mit des Hungers Wuth,
    So daß er Zittern selbst der Luft erregte.
    Dante Alighieri, Göttliche Komödie , Erster Gesang
    E r sah ungefähr so geschockt aus, wie ich mich fühlte. »Was machst du hier?«, fragte er.
    Seine Stimme klang wie der Gewitterdonner von jenseits der Palmen, den ich mit jedem Blitz aus den turmhohen schwarzen Wolken näher kommen hörte. Ich versuchte, etwas zu sagen, brachte aber keinen Laut heraus. Das war allerdings auch keine besonders große Überraschung, selbst wenn ich von dem Augenblick an, da Mom die Worte »Isla Huesos« ausgesprochen hatte, wusste, dass dieser Moment kommen würde. Es mag seltsam klingen, aber wahrscheinlich wollte ich es in gewisser Weise einfach hinter mich bringen. Warum sonst hätte mein Gehirn meine Beine dazu veranlassen sollen, mich ausgerechnet zum Friedhof zu bringen?
    Nein, nicht mein Gehirn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher