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Jene Nacht im Fruehling

Titel: Jene Nacht im Fruehling
Autoren: Jude Deveraux
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gesunden, lächelnden Frau, und dieses Haus für immer verlassen. Vielleicht hatte Dave recht daran getan, es zu verkaufen, vielleicht barg es so viele schlimme Erinnerungen, daß man diese nur überwinden konnte, wenn man das Haus aufgab.
    »Ich lege noch den Mietvertrag zu den Schlüsseln auf den Schreibtisch«, sagte er rasch, um seinen Auftrag zu Ende zu bringen. »Der Hausbesitzer wird dir die Schlüssel zu den Außentüren aushändigen, sobald du nach New York kommst und dich bei ihm meldest. Den Karton mit den Sachen deiner Großmutter habe ich dort auf dem Boden abgestellt.«
    Als der Anwalt dann in der Halle die Hand auf die Klinke der Eingangstür legte, fühlte er sich fast so wie ein Läufer, der ungeduldig auf den Startschuß wartet, damit er endlich von hier wegkam. »Wenn du sonst noch etwas brauchen solltest, laß es mich bitte wissen - ja, Samantha?«
    Sie nickte, aber sie drehte sich nicht um, als sie ihn Weggehen hörte. Statt dessen fuhr sie fort, in den winterkahlen Garten hinter dem Haus ihres Vaters hinauszustarren. Aber es war nicht mehr sein Haus. Noch war es das ihre. Als heranwachsendes Mädchen hatte sie gedacht, daß sie eines Tages ihre Kinder in diesem Haus großziehen würde, aber... Sie blinzelte ein paarmal, bis sie den Garten wieder deutlich sehen konnte, und da fiel ihr ein, daß sie neunzig Tage Zeit hatte, um die Heimstatt ihrer Kindheit zu räumen.
    Sich umdrehend, betrachtete sie den Packen Papiere auf dem Schreibtisch ihres Vaters - dem Schreibtisch, der nun jemand anderem gehörte. Sie spielte mit dem Gedanken, sich der Aufgabe zu entziehen, die ihr das Testament ihres Vaters auferlegte. Sie konnte sich selbst ernähren. Ja, wenn es darauf ankam, konnte sie, wie sie sehr wohl wußte, sogar noch eine zweite Person ernähren. Aber wenn sie nicht tat, was ihr Vater von ihr verlangte, würde sie das ganze Geld verlieren, das er ihr hinterlassen hatte -das Geld aus dem Verkauf des Hauses, seine Ersparnisse aus vielen Jahren und das Geld, das sein Vater ihm vermacht hatte. Wenn sie das Geld, das sie erben würde, richtig anlegte, konnte sie ein finanziell unabhängiges Dasein führen - konnte wohnen, wo sie wollte, und machen, was sie wollte.
    Aber aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater beschlossen, daß sie, ehe sie in den Besitz dieses Geldes kommen konnte, ein Jahr in einer großen, schmutzigen Stadt verbringen und muffige alte Dokumente durchwühlen mußte in der Hoffnung, eine Spur von einer Frau zu finden, die ihre Familie verlassen hatte, als Samantha, ihre Enkelin, gerade acht Monate alt gewesen war. Diese Frau hatte einen Ehemann sitzenlassen, der sie anbetete; einen Sohn, der sie liebte; eine Schwiegertochter, die sie vermißte, und eine Enkelin, die sie eines Tages dringend brauchen würde.
    Samantha drehte sich zum Schreibtisch um und nahm den Stein auf, den sie ihrem Vater als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Einen Moment lang war sie versucht, ihn durch das Fenster zu schleudern. Aber dieser Impuls war nur von kurzer Dauer, und sie legte den Stein langsam, behutsam, auf den Schreibtisch zurück. Wenn ihr Vater wünschte, daß sie versuchen sollte, seine Mutter wiederzufinden, dann würde sie, Samantha, das auch tun. Hatte sie nicht jahrelang genau das gemacht, was er von ihr verlangt hatte?
    Sie war schon im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als sie an der Tür noch einmal anhielt, sich umdrehte und die altmodische Hutschachtel vom Boden auf hob, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte - diesen Karton, der, wie er ihr erzählt hatte, alle Erinnerungsstücke an seine Muter enthielt. Sie trug ihn die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie verspürte keine Neugierde, den Inhalt dieses Kartons zu erforschen. Tatsächlich war Samantha überzeugt, daß es, alles in allem, besser sei, jetzt nicht daran zu denken. Daß es besser sei, an gar nichts zu denken und sich an nichts zu erinnern. Daß es besser sei, etwas zu tun, als irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Und im Augenblick hatte sie ja auch eine Menge zu packen.

1
    New York April 1991
    Keine Viertelstunde, nach dem Samantha Elliot in New York gelandet war, wurde ihr die Brieftasche gestohlen. Sie wußte, es war ihre eigene Schuld, denn sie hatte in ihre Handtasche gegriffen, um ein Papiertaschentuch herauszuholen, und dann vergessen, den Reißverschluß wieder zuzumachen, so daß der Dieb nur die Hand hineinzustecken und die Brieftasche herauszuziehen brauchte. Damit war sie ihre MasterCard, ihre American-Express-Kreditkarte
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