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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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uns. Nicht vor uns.«
    »Aber«, fuhr Mimi unbeirrt fort, »Sie haben sich immer und immer wieder geschrieben, weil Sie nicht voneinander lassen konnten. Es waren so wunderbare Briefe. Meine Großmutter hat Sie bis heute nicht vergessen. Sie sehnt sich nach Ihnen.«
    »Hat sie Ihnen das gesagt?«, fragte er plötzlich.
    Mimi schwieg. Sie hatte geglaubt, Jacques habe sich nach ihrer Großmutter ebenso verzehrt wie sie nach ihm. Wieso tat er nun so, als hätte diese Leidenschaft, diese Sehnsucht zwischen Clara und ihm heute keine Bedeutung mehr für ihn? Wieso spielte er seine Verletzung des Herzens herunter, wo er doch die gleiche hatte? Wieso hatte er sie überhaupt empfangen? Er war vielleicht ein uralter, gebrechlicher Mann, aber seinen Augen war anzusehen, dass er im Inneren noch sehr lebendig war. Er musste doch einsehen, dass ihn, genau wie Clara, eine unbekannte Kraft am Leben hielt, die sie letztlich nur ihrer Liebe verdankten.
    Jacques warf einen langen Blick Richtung Fenster, als hätte er vergessen, dass Mimi auf seiner Bettkante saß. Dann wandte er sich ihr langsam wieder zu. Seine Stimme klang brüchig, als er zu reden begann. »Ich habe sehr große Teile meines Lebens gebraucht, Ihre Großmutter zu vergessen, nicht jede Nacht von ihr zu träumen, sie nicht zu vermissen, weil es so wehtat, weil dieser Schmerz kaum auszuhalten war. Wissen Sie, wie es ist, sein Leben lang zu glauben, man lebe ohne die Hälfte, die einen zu einem vollständigen Menschen macht? Ich kann es Ihnen sagen: Man verpasst sein Leben. Darüber bin ich sehr alt geworden. Wir hätten immer wieder Gelegenheiten gehabt, uns wiederzusehen, aber entweder wollte sie nicht oder ich nicht. Wir haben vermutlich beide versucht, so gut es ging, mit den Menschen glücklich zu werden, die uns der liebe Gott zur Seite gestellt hatte, und haben uns doch an ihnen versündigt.«
    Mimi biss sich auf die Lippen.
    Er lehnte den Kopf zurück und flüsterte mit halb geschlossenen Lidern: »Und wir haben uns an der Wahrheit versündigt, mein Kind. Wir haben uns selbst und allen anderen etwas vorgemacht. Das Letzte, was ich von ihr bekommen habe, nachdem Larissa und Jakob verunglückt waren, ist dieses Gemälde dort drüben.« Jacques streckte seinen Arm aus und wies auf die gegenüberliegende Zimmerwand, die im Schatten lag. »Ich schätze, damit wollte sie mir die Schuld am Tod ihres … ihres Sohnes geben. Schließlich war ich derjenige gewesen, der wieder Kontakt zu ihr aufgenommen hatte.«
    Mimi drehte ihren Kopf und folgte Jacques’ zeigendem Finger. Im Dämmerlicht erkannte sie das Gemälde! Es war das Bild der beiden badenden Jungen, das ganz früher im Wintergarten von Waldblütenhain gehangen hatte, bis es eines Tages verschwunden war. Doch das war schon so lange her, dass Mimi sich nicht einmal bewusst erinnerte. War es nach dem Tod ihres Großvaters abgehängt worden? Sie erhob sich vom Bett und trat näher an die große Leinwand heran. Dieses Bild entsprach in der Motivik exakt dem Casado-Gemälde, das in Jacques‘ Haus in Lunenburg gehangen und das Antoni Fuchs für sie gesucht hatte. Nur dass hier nicht zwei Mädchen in den Wellen badeten, sondern zwei Jungen. Ganz zart fuhr sie mit den Fingerspitzen über die satt aufgetragene Ölfarbe. »Hat Clara das gemalt?«
    »Ja.«
    »Wer sind diese beiden Jungen?« Mimi legte den Kopf schief. Das Bild übte eine seltsame Anziehung auf sie aus. Es war, als würde sie einen der beiden Knaben kennen. Sie hörte die Brandung, die Möwen. Alles war so nah, so real.
    »Einer von ihnen ist Ihr Vater, mein Kind. Fragt sich nur, welcher der beiden. Der mit den dunklen Locken oder der mit dem blonden Haar?« Jacques Stimme hatte einen seltsamen Klang bekommen, einen, der Mimi einen Schauer über den Rücken jagte. Was hatte das zu bedeuten? Natürlich war der Junge mit den Locken ihr Vater. Oder nicht? Warum hatte Clara Jacques dieses Bild geschenkt? Gab sie ihm wirklich die Schuld an Jakobs Tod, der doch für sie nach Kanada geflogen war? Nein, so grausam war ihre Großmutter nicht. Sicher hatte sie Jacques damit etwas anderes sagen wollen, nur was? Mimi drehte sich zu ihm um. Der alte Mann war auf einmal eingeschlafen, oder hatte er einfach nur keine Kraft mehr, mit ihr über Vergangenes zu sprechen? Für einen Augenblick sah sie ihn unschlüssig an. Dann entschied sie sich, nach unten vors Haus zu gehen.
    Sie war voller Fragen, doch das Nichtwissen musste sie aushalten, bis Jacques wieder aufgewacht war.
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