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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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Clara. Ihre Haut war etwas dunkler als die ihrer Großmutter, aber die Augen. Hatten sie nicht die gleichen Augen? Mimi hatte nie darauf geachtet.
    Jacques versuchte, sich etwas aufzurichten. »Können Sie mir einen Gefallen tun und die Kissen in meinem Rücken etwas zurechtrücken?«
    »Aber sicher.« Mimi beugte sich vor und tat alles, damit der gebrechliche Mann bequem sitzen konnte. »Geht es so? Möchten Sie etwas trinken?«
    »Nein, nein. Mein Kind. Jetzt ist es ganz wunderbar.« Er lächelte nun wieder etwas verbindlicher. Noch nie hatte Mimi einen derart alten Menschen gesehen. Sein Gesicht war mit unzähligen Furchen und Fältchen überzogen – wie eine Landkarte. Anders konnte man es nicht bezeichnen. Doch seine Augen wirkten jung. Darauf konzentrierte sie sich jetzt. »Ich bin hier …« Sie unterbrach sich selbst und setzte noch einmal neu an. »Meine Großmutter leidet unter einer schweren Herzerkrankung«, kam es stockend aus Mimi heraus. Das klang vielleicht etwas sehr medizinisch, aber egal, wie sie es anfing, alles, was sie zu ihrer Erklärung vorzubringen hatte, würde gleichermaßen absurd klingen. Doch Jacques nickte verstehend. »Da ist sie nicht die Einzige …«
    »Ich weiß«, entfuhr es Mimi, und sie kam sich plötzlich wie eine Spionin vor, die sich in die Krankenakten von Jacques Barreto unerlaubt Einblick verschafft hatte.
    »Sie wissen es?«, tatsächlich wirkte er nun auch erstaunt.
    »Ja.« Angespannt rieb sie sich mit den Händen über die Oberschenkel. »Ich … ich habe ein paar Nachforschungen über Sie anstellen müssen, um Sie zu finden. Durch ein Fax meiner Eltern weiß ich, dass Sie bis vor zwanzig Jahren in Kanada gelebt haben, und später habe ich herausgefunden, dass dort ebenfalls ein Fall dieser seltenen Verletzung des Herzens diagnostiziert wurde …« Mimi lächelte hilflos. Die Geschichte schien ihr plötzlich so kompliziert.
    »Larissa und Jakob«, fiel Jacques ihr ins Wort, als wollte er ablenken. Dafür erfüllte seine raue Stimme ihre Namen mit Leben. »Ihre Eltern haben mich damals besucht. Sie versprachen mir, mich zu Clara zu bringen. Damals schien mir diese Idee berauschend, endlich meine Goldblüte wiederzusehen, ihre Hände zu halten, sie sprechen zu hören, ihr bei all ihren Bewegungen zuzusehen. Doch dann passierte dieses furchtbare Unglück, wie schon so viele furchtbare Unglücke passiert waren, wann immer Clara und ich Kontakt zueinander aufgenommen hatten. Also beschloss ich damals, endlich mit der Geschichte abzuschließen und so zu tun, als hätte es Clara nie gegeben, um nicht noch mehr Menschen ins Verderben zu stürzen. Und nun sitzen Sie hier auf meiner Bettkante und fordern erneut das Schicksal heraus.«
    »Meiner Großmutter geht es sehr schlecht«, fuhr Mimi ernst fort, nicht gewillt, sich von Jacques’ Vorahnungen ablenken zu lassen. »Die Ärzte geben ihr nicht mehr viel Zeit. Ihr Herz …«
    Der greise Mann hob seine zitternde Hand. »Oh, oh, oh! Sie werden doch vor einem Hundertjährigen nicht mit dem Tod anfangen. Das ist gar kein beliebtes Thema. Ich versuche, den Tod schon seit über zwan zig Jahren weiträumig zu umgehen. Wie Sie sehen – mit Erfolg. Ich habe keine Herzbeschwerden mehr. Keine Schmerzen. Ich lebe ganz wunderbar mit meiner kleinen Verletzung und mit dem Vergessen. Mein Herz hat sich daran gewöhnt.« Er strich sich über die eingefallene Brust und schloss für einen Moment die Augen. Dabei atmete er ruhig ein und aus, wie zum Beweis, dass alles gut war. Dass es keinen Grund zur Aufregung gab.
    Mimi lächelte und setzte sich aufrecht hin. »Ich … ich hatte gehofft, dass Sie mir helfen können.«
    »Ihnen helfen?« Jacques schlug die Augen wieder auf und blickte sie plötzlich müde an. »Wobei soll ich Ihnen helfen, Kind? Sehen Sie mich an. Ich bin ein steinalter Mann. Ich liege vormittags auf dem Bett herum wie eine faule Zitrone.«
    »Ich hatte gehofft, Sie und meine Großmutter könnten noch einmal Kontakt zueinander finden. Ich weiß, dass sie sich nichts mehr in ihrem Leben gewünscht hat, als dass Sie zu ihr durch den Wald in ihr Paradies kommen, um endlich vereint zu sein.«
    »Mein Kind!« Jacques lachte auf und verlieh dann seiner Stimme einen eindringlichen Tonfall. »Das waren Träumereien. Träumereien von zwei Kindern, die es nicht besser wussten. Mehr als achtzig Jahre sind vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ein ganzes Menschenleben. Was soll das jetzt noch? Unser Weg liegt hinter
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