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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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ihm?« Clara legte den Pinsel zurück in die Rinne unter der Staffelei. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Es war dieser Blick, den sie schon von Margarete kannte. Mit genau diesem Blick hatte sie Clara damals entgegengesehen, als sie sich durch die Kindertraube am Ufer des Waldsees zu ihrem leblosen Rehlein vorgekämpft hatte. Diesen entsetzlichen Blick, der größtes Bedauern ausdrückte, hatte sie nie vergessen können.
    »Er … er liegt unten in der Halle. Am Fuß der Treppe. Ich habe nicht gesehen, wie er gestürzt ist. Aber …«
    Clara drängte sich an der Haushälterin vorbei in den Flur. Die Schlafzimmertür am Ende des Gangs stand offen. So früh stand ihr Mann normalerweise nicht auf. Hatte er sie gesucht, weil sie nicht wie sonst neben ihm gelegen hatte, als er aufgewacht war?
    Clara war selbst nicht mehr ganz jung. Aber sie hatte noch immer Elan und Schwung. In ihrem dunkelblauen Hosenanzug lief sie den Flur hinunter zur Treppe. Von dort oben sah sie Gustav im Pyjama in der Halle liegen. Mit verdrehten Beinen. Die Arme von sich gestreckt. Die Augen geschlossen. Offenbar hatte Margarete ihm etwas unter den Kopf gelegt. Jetzt blinzelte er hinauf in ihre Richtung und wisperte: »Sei vorsichtig!«
    Clara umklammerte das Treppengeländer und nahm eilig Stufe für Stufe, darauf bedacht, nicht auch noch zu stürzen. Als sie unten ankam, ließ sie sich neben ihren Mann auf die Knie sinken. Sie griff nach seiner Hand und streichelte zärtlich darüber. Ihre Stimme war kaum zu hören, als sie fragte: »Was machst du denn nur?«
    Hinter ihr hastete Margarete weiter zum Telefon. »Ich rufe Doktor Medler an.«
    Mit einem unterdrückten Stöhnen drehte Gustav ihr sein Gesicht zu. Er öffnete seine blassen Lippen. »Meine starke, mutige Frau. Du hast mir ein Heim gegeben. All die Jahre, ein ganzes Leben lang hast du mir ein Heim gegeben, damit ich wusste, wo ich zu Hause bin. Dass ich immer wusste, wohin ich zurückkehren kann. Du hast zäh und treu auf mich all die Jahre gewartet. Du hast so vielen Kindern ein Zuhause geschenkt, damit keins von ihnen verloren ging.«
    Clara klammerte sich an seiner kalten Hand fest, die ganz schlaff in ihren Händen lag. Hinter ihr sprach Margarete im Flüsterton mit Doktor Medler. Anschließend verschwand sie in die Küche. Clara streichelte ihm über die Wange. »Warum sagst du all das?«
    »Weil ich es viel zu selten zu dir gesagt habe. Heute Morgen bin ich aufgewacht, und du lagst nicht neben mir. Plötzlich kam ich mir so verlassen vor. Vielleicht weil ich es gewohnt bin, dass du Nacht für Nacht neben mir liegst. Dann wurde mir bewusst, dass du mich in all den Jahrzehnten unserer Ehe nicht ein einziges Mal alleine hast schlafen lassen. Ich habe großes Glück gehabt. Mehr als die meisten Menschen. Ich durfte all meine Tage und Nächte mit meiner geliebten Frau verbringen. Und mit einem Mal war ich so erfüllt von Dankbarkeit, dass ich aufgestanden bin, um dir für jeden einzelnen Tag und jede einzelne Nacht zu danken. Und nun …« Gustav schloss für einen Moment die Augen. »Und nun liege ich dir tatsächlich zu Füßen…«
    »Danke mir nicht«, unterbrach ihn Clara. »Danke mir nicht. Ich bin es, die dir dein Leben lang etwas schuldig geblieben ist. Ich bin es, die heute aufgestanden ist, um dir endlich das Bild zu malen, das du dir gewünscht hast, und die nicht wusste, was dieser Wunsch für einen Zweck haben soll.«
    »Unser Zuhause?« Gustav öffnete blinzelnd die Augen, über sein fahles Gesicht huschte ein Lächeln. »Wolltest du es mir zum Geburtstag schenken, mein süßer Schatz?«
    Clara nickte, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Ja, und es tut mir leid, dass ich es nicht schon viel eher getan habe. Ich weiß nicht, warum ich es nicht früher hinbekommen habe. Ich weiß es einfach nicht …«
    »Du hattest genug damit zu tun, unser Zuhause mit Leben zu füllen. Wir haben einen wunderbaren Sohn, eine wunderbare Schwiegertochter, eine wunderbare Enkelin …«
    »Aber Gustav, ich bin nicht die, für die du mich hältst. Ich habe …« Clara wischte sich mit dem Handballen die Tränen weg. »Hör mir zu. Ich muss dir etwas sagen …«
    »Nicht jetzt, mein süßer Schatz. Nicht jetzt.« Gustav drückte ganz leicht Claras Hände, wobei er sie mit seinen dunklen Augen durchdringend ansah. »Es ist nicht wichtig. Es ist nicht wichtig, was du hast und was du nicht hast. Du warst mein Zuhause und mein Leben, und bevor Doktor Medler gleich kommt, um mein
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