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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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wollte sie für ihn etwas malen. Seit vierzig Jahren lebten sie nun gemeinsam in diesem Haus, doch wahre Nähe hatte sich erst mit dem Alter eingestellt. In allem, was er getan oder gesagt hatte, hatte sie ihn mit ihrer Vorstellung von Jacques verglichen, wodurch sie nie einen ungetrübten Blick auf Gustavs wahres Wesen gehabt hatte. Auf eigenartige Weise hatte sie ihm verübelt, dass er keine Ahnung hatte, was sie ihm alles verschwieg, und trotzdem glaubte, sie lieben zu können. Dabei war sie es gewesen, die für das, was sie hätten haben können, blind gewesen war. Wenn er sie doch nur einmal an den Armen gepackt und geschüttelt hätte! Wenn er sie doch nur einmal angebrüllt hätte, um sie endlich aus ihrem Jungmädchentraum herauszuholen! Hatte er wirklich nichts von ihrer Abwesenheit bemerkt? Oder hatte er sie nur gelassen, in der Hoffnung, eines Tages zu erkennen, dass sie sich unter einer Glasglocke gefangen hielt und ihr Leben verpasste?
    Clara strich sich die grauen Locken zurück und zog die Strickjacke enger um sich. In der Zimmerecke knisterte der Kamin; es würde noch dauern, bis sich der Raum richtig aufgewärmt hatte. Sie sah auf die leere Leinwand, aufgeregt, den ersten Pinselstrich zu tun. »Mal mir unser Zuhause«, hatte Gustav sie vor einigen Monaten beim Frühstück im Wintergarten gebeten.
    »Unser Zuhause?«, hatte sie überrascht gefragt und sich ihr Brot mit Margaretes Himbeermarmelade bestrichen. »Was meinst du damit? Die Gebäude? Den Obstgarten? Waldblütenhain von oben? Was davon soll ich malen?«
    »Ich weiß es nicht«, hatte er sanft geantwortet und die Serviette über die Knie gebreitet. »Du bist die Künstlerin. Du hast Fantasie. Du kannst Dinge und Menschen sehen, die gar nicht da sind …«
    »Was meinst du damit?« Nervös hatte sie die Brotkrümel von der Tischdecke gelesen. Die Frage hätte sie überhaupt nicht stellen müssen, sie ahnte, worauf er hinauswollte. Gustavs Blick war hinüber zur rückwärtigen Wand des Wintergartens gewandert und an dem Gemälde hängen geblieben, das zwei spielende Jungen in der Meeresbrandung zeigte.
    »Den einen der beiden Jungen habe ich damals sofort erkannt, als du die Skizze am Strand angefertigt hast. Unseren Sohn. Doch seither frage ich mich, mit welchem Kind er dort so selbstvergessen in der Brandung spielt? Kein anderes Kind war da! Also vermute ich, dass du Dinge und Menschen sehen kannst, die wir anderen nicht sehen. Du fantasierst sie in die Räume und Landschaften hinein. Ist es nicht so?«
    »Vermutlich?« Clara hatte angespannt gelächelt und mit dem Fingernagel die Struktur der Tischdecke nachgezogen.
    » Also«, hatte Gustav abschließend gemeint. »Male mir doch unser Zuhause. So, wie nur du es sehen kannst.«
    Daraufhin hatte Clara ihn sehr lange angesehen, ohne vor Aufregung einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können. Ahnte er längst, wer der andere Junge war? Wusste er etwas? Er hatte ihren Blick sanft erwidert, ohne etwas zu sagen. Vielleicht war sie für ihn nie die rätselhafte Frau gewesen, für die sie sich gehalten hatte? Vermutlich war sie nur diejenige, die nicht hatte sehen wollen, was Gustav längst wusste: Dass trotz ihrer zunehmenden Nähe und stärkeren Liebe noch immer etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen stand. Der geheime Verlust ihres Sohnes. An diesem Morgen hatte Clara beschlossen, Gustav schon bald die Wahrheit zu beichten, in der Hoffnung, sich so ganz und gar mit ihm zu verbinden. Vorausgesetzt, er würde sich nicht angewidert von ihr abwenden.
    Unten in der Halle fiel plötzlich etwas laut polternd zu Boden. Clara schreckte aus ihren Gedanken auf. Doch als auf das Poltern kein weiterer Lärm folgte, griff sie nach dem Pinsel und tauchte ihn ins Wasserglas. Bestimmt war Margarete der Kartoffelkorb aus den Händen geglitten. Um dieses Malheur konnte sie sich jetzt nicht kümmern. Sie spürte, wie sich vor ihrem inneren Auge aus dem Diffusen langsam ein klar erkennbares Bild entwickelte. Konzentriert blickte sie auf die Leinwand, bereit, den ersten entscheidenden Pinselstrich zu tun, um endlich das echte Zuhause sichtbar werden zu lassen. Gustav wünschte sich das Bild gar nicht für sich. Er wünschte es sich für sie! Hinter Clara öffnete sich geräuschvoll die Tür. Wer störte denn ausgerechnet jetzt? Sie drehte sich um.
    Margarete stand da. Blass, das graue Haar war aus ihrem Dutt gerutscht. »Clara. Ich …«
    Sie machte einen wackligen Schritt ins Zimmer. »Gustav …«
    »Was ist mit
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