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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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Durchsagen aus den Lautsprechern dröhnten.
    »Dein Hemd ist ganz nass und voller Wimperntusche«, schniefte Mimi und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
    »Das macht doch nichts.« René strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte sie zärtlich an.
    »Danke, dass du gekommen bist.« Mimi presste die Lippen zusammen. Wieder rollten Tränen über ihre Wangen. »Ich …«, stotterte sie. »Ich habe mir so gewünscht, dass ich es besser gemacht hätte. Mit dir, mit mir, mit uns. Ich hab es dir bestimmt nicht immer leicht gemacht. Ich weiß, dass ich oft abwesend war und in Gedanken bei meiner Arbeit. Ich weiß, dass oft alles dringender war als unsere Ehe. Ich wusste nicht, dass das, was wir hatten, erst einmal nur der Rahmen für unsere Liebe war. Nicht die Liebe selbst. Aber ich verstehe nicht, warum du nicht mit mir geredet hast, um mir zu sagen, was uns fehlt.«
    René hielt ihre Hände. Seine Gesichtszüge waren ganz weich. »Weil ich nicht gewusst habe, was uns fehlt.«

41

    Waldblütenhain, 1980
    Es schneite seit Tagen. Clara stand im ersten Stock am Fenster ihres ehemaligen Mädchenzimmers und blickte durch die schneebenetzten Scheiben die weiße, unberührte Auffahrt hinunter. Rechts und links ragten die kahlen Erlen wie schwarze Gerippe in die eisige Luft. Vor beinahe fünfzig Jahren hatte sie hier, von der Welt verlassen, gestanden und gehofft, dass das gelbe Postauto endlich auftauchen würde mit einer Nachricht von Jacques. Und tatsächlich war es aufgetaucht. Der Postbote hatte ihr ein kleines Paket überreicht, das einen Abschiedsbrief und den goldenen Kompass enthielt, den Clara ihm Jahre zuvor am Hafen zum Abschied überreicht hatte, damit er durch den Wald zu ihr nach Waldblütenhain finden würde. Sie lächelte. Wie naiv sie gewesen war. Sie hatte tatsächlich geglaubt, dass er für ihre jugendlich beschworene Liebe sein katalanisches Land, die Weinberge, das Licht, seine gesamte Existenz hinter sich lassen und zu ihr kommen würde, um sich um den Obstgarten und die Bienen zu kümmern.
    Die Steinmauer, die das Grundstück umfasste, stand noch immer da. Der Wald dahinter war auch noch da. Das Haus auch. Sogar sie war noch da. Nur die Postautos sahen inzwischen wesentlich moderner aus. Damals hatte sie vor Kummer aufgehört zu malen. Sie hatte die Staffelei, die Leinwände, die Farben hinunter in den Keller geschleppt und in die Ecke geschleudert. Da niemand sie sah, hatte sie sogar gegen die Leinwände getreten. Sie hatte geflucht und geweint und beschlossen, nie wieder etwas zu essen. Über Wochen hatte sie sich nicht mehr gewaschen, hatte niemandem mehr die Tür geöffnet, hatte sich nicht um die Galerie gekümmert, sondern gehofft zu sterben. Auf dem Bettvorleger in diesem Zimmer! Aber es war gar nicht so leicht zu sterben, wenn man unbedingt sterben wollte. Tagelang hatte sie auf ihren Tod gewartet, der einfach nicht kommen wollte. Also hatte sie sich wieder aufgerappelt, war mit dem Fahrrad durch den Wald ins Dorf geradelt, wo sie Gustav in der Bäckerei begegnet war. Ein unerfah rener junger Mann, zu dem in diesem Moment offenbar irgendeine Stimme gesprochen und gesagt hatte, ausgerechnet sie sei die Frau seines Lebens. Zumindest so schilderte Gustav bis heute ihre erste Begegnung, mit dieser warmen Feierlichkeit in den Augen. »Diese Stimme sagte zu mir: Mein Junge, das ist die Frau, für die du geboren wurdest! Frag sie sofort nach ihrer Adresse!«
    Schon am nächsten Tag war er, obwohl furchtbarer Hagel vom Himmel prasselte, durch den Wald zu ihr nach Waldblütenhain geradelt und hatte mit einem Blumenstrauß vor der Tür gestanden. Noch Ende Oktober hatte er unter den zerzausten Apfelbäumen ein Picknick für sie bereitet, sie in Wolldecken gehüllt auf den Waldsee hinausgerudert; er hatte ihr auf dem Klavier etwas vorgespielt, ihr Komplimente gemacht und schließlich um ihre Hand angehalten. Obwohl er als Ingenieur noch nie etwas mit Malerei zu tun gehabt hatte, war er bei Eisesglätte in die Stadt losgezogen und hatte Clara neue Leinwände und Farben besorgt und gebettelt, dass sie wieder mit dem Malen anfing und ihm ein Bild schenkte. Als sie erkältet war, hatte er Hühnersuppe für sie gekocht, Schallplatten aufgelegt – und sie hatte ihn geheiratet.
    Kurz darauf hatte sie wieder angefangen zu malen. Aber ein Bild für ihn war nie dabei entstanden.
    Clara drehte sich um. Hinter ihr stand die Staffelei. In ein paar Tagen hatte Gustav Geburtstag, und endlich
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