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Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)

Titel: Jane Eyre (Schöne Klassiker) (German Edition)
Autoren: Charlotte Brontë
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Geliebte zu werden. Heftig, wie er in seiner Verzweiflung auch geschienen habe, liebe er mich in Wahrheit doch zu tief und zu zärtlich, um sich jemals zu meinem Tyrannen zu machen. Er würde mir sein halbes Vermögen gegeben haben, ohne auch nur einen Kuss als Belohnung zubegehren; aber ich hätte niemals ohne Schutz, ohne Freund in die weite Welt hinauswandern sollen. Er sei gewiss, dass ich viel mehr gelitten habe, als ich ihm jetzt beichtete.
    »Nun, welcher Art meine Leiden und Entbehrungen auch gewesen sein mögen, sie waren doch nur von kurzer Dauer«, erwiderte ich. Dann fuhr ich fort, ihm zu berichten, wie man mich in Moor House aufgenommen hatte, wie ich die Stelle einer Schullehrerin erhielt und so fort. In der richtigen Reihenfolge kam dann zur Sprache, wie ich zu meinem Reichtum gelangte und wie ich meine Verwandten auffand. Natürlich kam der Name St. John Rivers im Verlauf meiner Erzählung häufig vor. Als ich zu Ende war, knüpfte er sofort an diesen Namen an.
    »Dieser St. John ist also dein Vetter?«
    »Ja.«
    »Du hast viel von ihm gesprochen. Hattest du ihn lieb?«
    »Er war ein sehr guter Mann, Sir; ich konnte nicht umhin, ihn lieb zu haben.«
    »Ein guter Mann? Bedeutet das, ein achtbarer, ruhiger Mann von fünfzig Jahren? Oder was soll das heißen?«
    »St. John war erst neunundzwanzig Jahre alt, Sir.«
    » Jeune encore
, wie die Franzosen sagen. Ist er ein Mensch von kleiner Statur, phlegmatisch und hässlich? Ein Mensch, dessen Güte eigentlich mehr darin besteht, dass er keinem Laster frönt, als dass er irgendeine Tugend übt?«
    »Er ist unermüdlich tätig. Er lebt nur, um große und erhabene Taten zu vollbringen.«
    »Aber sein Verstand? Der wird wohl nur gering sein! Er hat die besten Absichten, aber man zuckt die Achseln, wenn man ihn reden hört?«
    »Er spricht wenig, Sir; was er aber sagt, trifft stets ins Schwarze. Er hat meiner Ansicht nach einen außerordentlichen Verstand – sehr mächtig und kaum zu beeindrucken.«
    »Er ist also ein gescheiter Mann?«
    »Sehr gescheit.«
    »Ein durch und durch gebildeter Mann?«
    »St. John Rivers ist ein hervorragender und gründlich gebildeter Gelehrter.«
    »Aber mich dünkt, du sagtest, dass seine Manieren nicht ganz nach deinem Geschmack wären, pfäffisch und langweilig?«
    »Ich sprach durchaus nicht von seinen Manieren, und ich müsste schon einen sehr schlechten Geschmack haben, wenn sie mir nicht gefielen. Er ist höflich, ruhig und sehr
gentlemanlike

    »Sein Äußeres – ich habe ganz vergessen, welche Beschreibung du von seinem Äußeren gabst: eine Art von ungehobeltem Landprediger, der in seiner weißen Krawatte halb erstickt und auf seinen dicksohligen Stiefeln wie auf Stelzen geht, was?«
    »St. John kleidet sich sehr gut. Er ist ein schöner Mann, groß, strahlend, mit blauen Augen und griechischem Profil.«
    »Hol ihn der Teufel!«, sagte er beiseite, zu mir aber: »Mochtest du ihn, Jane?«
    »Ja, Mr. Rochester, ich mochte ihn; aber Sie haben mich ja schon einmal danach gefragt.«
    Ich bemerkte natürlich schon lange, was der Fragesteller beabsichtigte. Die Eifersucht hatte sich seiner bemächtigt, sie quälte und reizte ihn, aber dieser Reiz war gesund, er riss ihn aus der qualvollen Melancholie, welcher er anheimgefallen war. Deshalb wollte ich das grünäugige Ungeheuer auch nicht sofort bändigen.
    »Vielleicht wird es Ihnen unbequem, Miss Eyre, noch länger auf meinen Knien zu sitzen?«, war seine nächste, ziemlich unerwartete Bemerkung.
    »Weshalb, Mr. Rochester?«
    »Das Bild, welches Sie mir soeben entworfen haben, war von geradezu überwältigendem Kontrast. Ihre Worte habenauf das Anmutigste einen herrlichen Apoll gezeichnet; er steht Ihnen sehr lebhaft vor Augen – groß, strahlend, mit blauen Augen und griechischem Profil! Und jetzt ruhen Ihre Augen auf einem Vulkanus, einem wahren Grobschmied, braun, breitschultrig und obendrein noch blind und lahm.«
    »Daran habe ich bis jetzt noch nicht gedacht, aber Sie sind dem Vulkanus tatsächlich ähnlich, Sir.«
    »Gut, Sie können mich ja verlassen, Madam, aber bevor Sie gehen …« – und er hielt mich fester als zuvor – »… werden Sie die Gewogenheit haben, mir noch ein oder zwei Fragen zu beantworten.« Er machte eine Pause.
    »Welche Fragen, Mr. Rochester?«
    Und nun folgte ein Kreuzverhör:
    »St. John verschaffte dir den Platz als Lehrerin in Morton, noch bevor er wusste, dass du seine Cousine bist?«
    »Ja.«
    »Warst du oft mit ihm zusammen?
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