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Jan Fabel 04 - Carneval

Titel: Jan Fabel 04 - Carneval
Autoren: Craig Russell
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weiterhin geschwächt wurden. Die Hungerkur sowie das unregelmäßige Ein- und Ausschalten der Beleuchtung sollten sie desorientieren.
    Die Tür glitt auf. Maria sah nicht hin, wer es war. Mit der Entscheidung, zu handeln oder nicht, zu töten oder nicht, würde sie bis zum allerletzten Moment warten müssen. Sie kannte die Prozedur: Wer immer die Mahlzeit brachte, würde das Tablett draußen auf den Flur stellen, von der Tür zurücktreten, die ausgestreckte Automatik von einer Seite zur anderen schwenken und die Waffe dann auf Maria richten.
    Sie blieb auf den Knien, umklammerte ihren Bauch und rang nach Atem. »Ich bin krank«, sagte sie und blickte immer noch nicht auf. Dies war die einzige Möglichkeit, denn Witrenko musste den beiden befohlen haben, sie am Leben zu erhalten, bis sie ihren Zweck erfüllt hatte. Sie hörte das Geräusch sich nähernder Stiefel.
    »Ich habe ein Medikament«, keuchte Maria. »In meinem Mantel … Bitte, hilf mir.« Sie wollte nicht, dass sich die Tür schloss und die Wächter erst einmal Anweisungen von Witrenko einholten. Deshalb warf sie nicht nur ein Problem auf, sondern bot gleichzeitig eine Lösung an. Das Antidepressivum, das Dr. Minks ihr verschrieben hatte, war bestimmt noch in ihrem Mantel.
    Die Stiefel bewegten sich nicht. Krankheit vorzutäuschen war ein vorhersehbarer Trick. Maria hatte mit solchem Zweifel gerechnet und schlug die Hand vor den Mund, als müsse sie sich übergeben. Unbemerkt schob sie sich den Ringfinger in den Mund und in die Kehle. Sofort wurde die Reaktion ausgelöst. In ihrem Magen war wenig von der viele Stunden zurückliegenden kümmerlichen Mahlzeit vorhanden, aber sie würgte genug auf den Boden des Kühlraums, um vermuten zu lassen, dass sie wirklich krank war. Maria sackte mit geschlossenen Augen auf die Seite. Wieder näherten sich Schritte, und ein Stiefel stieß ihr in die Rippen. Maria hatte sich so weit von ihrem Körper entfernt, dass sie bei dem Tritt nicht einmal zusammenzuckte. Eine Pause, in der das Risiko eingeschätzt wurde: Welche Gefahr konnte Maria darstellen, selbst wenn sie nicht das Bewusstsein verloren hatte? Dann das Geräusch einer Waffe, die ins Halfter glitt. Finger griffen nach ihrem Hals, um ihren Puls zu fühlen.
    Nun riss sie die Augen auf und starrte Olga Sarapenko ins Gesicht. Schrecken flackerte in Sarapenkos Miene auf, denn sie hatte etwas vor sich, das kein Mensch mehr war.
    4.

    Im Hotelzimmer hing der übliche bunte, abstrakte Druck an der Wand. Fabel saß auf der Bettkante und betrachtete das Bild, als könne es ihm das Wissen oder die Kraft verleihen, seinen nächsten Schritt zu planen. Ihm schmerzte der Kopf. Es war Witrenkos schiere Arroganz, die ihn verblüffte: die Tatsache, dass der Mann einen hohen Polizeibeamten auf einer von Menschen wimmelnden Straße in die Enge getrieben und von ihm verlangt hatte, all seine Überzeugungen aufzugeben.
    Fabel dachte an »Die Nachtwache« im Wohnzimmer seiner Mutter. Irgendwann hatte er vergessen, was ihm als kleinen Jungen wichtig an dem Bild erschienen war. Das Bedürfnis, andere vor Gefahren zu schützen.
    Er wusste, was er zu tun hatte, doch ihm graute davor, denn es widersprach jedem seiner Instinkte. Schließlich griff er nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.
    »Hallo, Ulrich. Hier ist Jan. Es geht um das Witrenko-Dossier …«
    5.

    In den kalten, dunklen, einsamen Stunden hatte Maria begriffen, dass sie ein scharfes Instrument benötigte, um einen erfolgreichen Angriff zu führen. Der Löffel war ihr, für eine Weile zusammen mit jeglicher Hoffnung, weggenommen worden. Dann hatte sie sich klargemacht, dass sie natürlich ein scharfes Instrument besaß. Allerdings war sie durch seine Benutzung an einem nicht mehr menschlichen Punkt angelangt.
    Die grauweißen Wände waren mit Blut bespritzt. Sarapenko, die im Tod unbedingt noch einen anderen Menschen berühren wollte, streckte die Hand nach Maria aus. Der Blutstrom an ihrem Hals wurde schwächer, und die ausgestreckte Hand fiel auf den schmuddeligen Boden. Mühsam rappelte Maria sich auf und wischte sich das Blut mit den Ärmeln von Mund und Gesicht. Sie zog die Automatik aus dem Halfter an Sarapenkos Leiche und versuchte, nicht in das seiner Schönheit beraubte Gesicht zu schauen. In das Gesicht, das sie zerstört hatte. Aber Maria verspürte kein Entsetzen. Wieder war es so, als beobachte sie sich selbst aus der Distanz.
    Sie torkelte hinaus in den Hauptteil der Anlage und schwenkte Sarapenkos
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