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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Raubmordes zum Tode verurteilt, einen Brief schreiben lassen. Darin steht, daß in Wirklichkeit Herr John Rapacki dem Habicht Ernest Rupolo dazu verhalf, daß er am 24. August 1964 mit sechs Schüssen und siebzehn Stichen im Leibe in der Jamaica-Bucht dahinschwamm. Herr Walter Sher ist nun vom Gouverneur zu lebenslanger Einsperrung begnadigt, und Herr John Rapacki sagt: das sei eine Lüge, und er könne es beweisen. Das macht aber nichts, denn Franzese und seine Freunde sind freigesprochen, und die New York Times hat gesehen, daß seine Frau, adrett und blond, geweint hat, und weiß auch warum: vor Rührung und Erleichterung. Angenehme Weihnachtsfeiertage, Mrs. Franzese!
    Marie regt es nicht auf, daß die Familie Cresspahl am späten Nachmittag vom Riverside Drive geholt und in einer Limousine mit Chauffeur nach Connecticut gefahren wird. Sieht man ihr Betragen, so hat sie es nicht anders erwartet. Denn nun hat die Familie Cresspahl nicht nur einen Freund, der mit ihr ein dickes Auto und ein Haus auf dem Lande teilt, was ja ein persönlicher Zufall sein könnte, wenn nicht ein Verdienst; nun wird sie in solche Schmuckstücke auch noch eingeladen vom Arbeitgeber, von seiner Majestät dem Vizepräsidenten selbst, und Marie glaubt sich sicher in einer Welt, in der die Tüchtigkeit nach Verdienst entlohnt wird. Solange der Wagen noch in der Stadt war, mag sie bedauert haben, daß seine Fenster in einem diskreten Dunkelgrün getönt sind und keinem Kind aus ihrer Klasse die Chance gaben, sie bei einer der Art vornehmen Ausfahrt zu beobachten; auf den Autobahnen beginnt sie schon auszuprobieren, was für ein Benehmen zu solchem Gefährt passen könnte. Sie gibt einer aufrechten, strengen Haltung in den fülligen Polstern den Vorzug. Dann läßt ein verkleidetes Kommödchen an der Vorderwand des Fahrgastabteils ihr doch nicht die Ruhe. Sie hält für möglich, daß darin eine Bar sitzt. Sie zieht auf die beiläufigste Weise an dem edel polierten Knopf. Du liebe Zeit, das ist eine Bar, mit Kühlaggregat. In diesem Auto ist ein Funktelefon! Hier gibt es ein auf Schachtelgröße geballtes Fernsehgerät! Marie ist so beschäftigt mit Entdeckungen und Manieren, sie bemerkt gar nicht, daß Arthur nur wartet auf eine Einladung, die Trennscheibe zu versenken und das Gespräch zu beginnen, dessen er die Angestellte Cresspahl nun für würdig hält. Aber die Angestellte Cresspahl unterhält sich mit ihrem Kind. Die Angestellte Cresspahl hat andere Bedenken.
    De Rosnys Haus ist aufgestellt dicht am Long Island-Sund in einer parkähnlichen Gegend, in der noch die Straßen privates Eigentum sind. Sie beginnt mit einer quer über den Damm gebauten Schwelle, die den auswärtigen Autofahrer mit einem Stoß gegen die Räder darauf aufmerksam machen soll, daß er eingedrungen ist in ein fremdes Gebiet mit besonderen Regeln und Sitten. Das Haus hat nicht weniger als fünf weiß angestrichene Säulen vor seinen zwei Stockwerken stehen, die nichts halten als den Vorsprung des Daches. Die schmiedeeisernen Tore öffnen sich auf ein Funksignal aus dem Auto. Marie ist nur wenig geniert, daß Arthur ihr die Tür offenhält und in gebückter Haltung stehenbleibt, die Mütze in der Gegend des Herzens. Sie denkt, daß solche Sitten natürlich sind, wenn sie einmal beachtet und ausgeführt werden. Sie hat noch Zeit für einen dankbaren Seitenblick. Sie meint, dies alles sei der Arbeit ihrer Mutter zu danken.
    Sie versteht gar nichts. Sie hält de Rosny, diesen schlacksigen, wetterfesten Herrn, einfach für einen freundlichen Menschen mit besonders glaubwürdigen Umgangsformen. Sie begreift nicht, daß wir von diesem Menschen abhängen. Jedoch ist es ihr mehrmals versichert worden. Sie läßt sich von ihm durch die untere Etage führen, Salons angefüllt mit aufblasbaren Möbeln, Bauernschränken, Hängeschaukeln, die Wände behängt mit Nachbildungen von Comic Strips und Lebensmittelreklame. Hier hat also die New York Times fotografiert. Auch hier ist inzwischen Weihnachten vorbereitet. An die Lampen hat de Rosny sich die größten und buntesten Sterne gehängt, Morgensterne geradezu, die in New Yorks Papiergeschäften zu haben sind. Wenn man ihm glaubt, hat er eine altitalienische Weihnachtsszene eigens für Marie aufgestellt, und Marie glaubt ihm. Er kreist Marie dermaßen ein mit dem Verhalten gegenüber einer Dame, sie kann gar nicht anders als sich anpassen. Das geht nur so mit danke und bitte und darf ich und aber selbstverständlich. So einen
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