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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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ihn nicht zurück und behauptete, das Formular sei für einen seiner Gesellen gewesen. Der Geselle war nach Wismar gegangen, und soviel hatte Friedrich Jansen schon heraus, daß der Geselle tatsächlich seit dem Juni 1934 in der Partei war, aber etwas war da krumm. Dieser Cresspahl gab ja nicht zu, daß er sich die Sache überlegt hatte, nachdem der Führer seine S. A. von Verrätern und Schweinehunden gereinigt hatte; er gab nur an: er überlege sich das bisher. Und gab das wieder und abermals an. Noch war an den Mann nicht heranzukommen, noch war an dem alten Papenbrock nicht vorbeizukommen. Aber eines Tages würde dieser Cresspahl doch hereinfallen auf eine Nordische List. Oder in eine gegrabene Grube.
    Cresspahl hatte sich nun doch in eine andere Lebensversicherung eingekauft, bei der Gesellschaft Allianz. Cresspahl war nun fernmündlich zu erreichen über Jerichow 209. Bei denen war immer die Frau am Telefon, er hatte wohl nicht die Zeit für die zwanzig Schritte von der Werkstatt ins Haus. Jetzt war es 1935, und die hatten immer noch nicht das zweite Kind, und nicht ein drittes. Das war Lisbeth Papenbrock gar nicht anzusehen gewesen. Das mit den Walnußbäumen hatte sich als richtig erwiesen, tatsächlich hielten die ätherischen Öle die Mücken fern. Die hatten nur dies eine Kind, Gesine, die war zu Weihnachten 1935 etwas mehr als zweieinhalb Jahre alt. Die sprach immer noch nicht viel, aber sie hatte die Augen weit offen.
    Holl di an’n Tuun, de Himmel is hoch.

19. Dezember, 1967 Dienstag
    Oh was kann die New York Times schimpfen! Es ist nichts Außergewöhnliches, außer daß der Städtische Beauftragte für Wasserversorgung, Gas und Elektrizität in der vorigen Woche nur deshalb zurückgetreten ist, weil er mit Antonio Corallo, »Toni Duckdich« von der Mafia, eine Sache laufen hatte, bei der es um die private Verteilung von zum Beispiel 835 000 Dollar städtischen Geldes ging. Zwei Artikel beginnen auf der ersten Seite. Noch die ganze Seite 52 ist voll von ihnen. Da beginnt noch ein Artikel auf Seite 1! und geht auf Seite 53 weiter! Und die Zeitung versäumt es nicht, uns einen Überblick über die Korruption in der Stadt »im Verlauf des letzten Jahrhunderts« zu geben. Und dem Kommentar auf der Meinungsseite hört man ein Beben der Stimme an, und doch verliert sie nicht die Beherrschung und weist uns an, den Vorfall im rechten Verhältnis zu würdigen und gibt uns dazu Ratschläge.
    Und wer dankt es ihr, außer mit 10 Cent?
    Wir wollen es tun, weil Weihnachten ist.
    Schönen Dank, alte Dame.
    Es muß an Weihnachten liegen, die Leute sind so außer sich. Anders kann es nicht sein.
    Es fing an mit Marie, die sich ausdrücklich bedanken wollte für eine Wohnung, in der sie morgens einen winterlichen Fluß und die hell angeleuchteten Felsen des anderen Ufers sehen kann. Sie macht das umständlich, sie nimmt sich eine gönnerhafte Manier an, sie sagt: Nice apartment you have here; hätte ja sonst ein Gefühl gezeigt. Und dann sagte sie: Manche Kinder haben es gut im Leben.
    Und Shakespeare und Jason waren nahezu ausgelassen und waren unerschöpflich im Beschreiben des Äußeren von Mrs. Cresspahl, und es kann daran liegen, daß sie demnächst Umschläge mit ein bißchen grünem Papier darin bekommen werden, und es kann daran nicht allein liegen.
    Der schwarze Mechaniker in der mittleren Garage an der 96. Straße, der ernsthafte Mann, der einem kaputten Auto gegenübertritt wie ein Arzt aus Leidenschaft, er winkte Mrs. Cresspahl zu mit der ganzen Hand, auf eine brüderliche Weise, und es mochte heißen: Nimm dich in Acht, Schwester. Paß auf dich auf. Komm gut durch den Tag. Er kann das, ohne zu lächeln.
    Und wieder stand an der West End Avenue vor dem Schnapsladen einer von jenen abgestoßenen Herren, die jeweils eine kranke Tante in New Jersey haben, weil sie in diesem Fall mindestens 35 Cent Fahrgeld benötigen, und Mrs. Cresspahl blieb hartherzig und gab auch ihm nichts Bares, sondern eine schnöde Ubahnmünze, und er sagte wahrhaftig: Gott segne Sie, meine Dame. Das kann doch nicht sein.
    Der Alte am Zeitungenstand hielt Mrs. Cresspahl geradezu mit einem Gespräch auf und fragte: Don’t you want your DER SPIEGEL ? it just came up. Bisher hat er sich verhalten, als seien ihm die Leute mit ihren unentwegten Kaufwünschen lästig, und heute blickte er zum Himmel und blickte der Kundin ins Gesicht und sagte: Nice day. Das war schon nicht mehr eine Feststellung, das war nicht fern von einem Wunsch. Ob
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