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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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Abstammung Schaufenster einschlagen und Brandbomben werfen.
    Am nächsten Morgen ist der früheste Küstenzug nach New York auf dem freien Feld vor der Bucht aufgefahren, invalides Gerät mit Pfandplaketten unter dem Firmennamen. Jakob hätte so verwahrloste Wagen nicht vom Abstellgleis gelassen. Die verstriemten Fenster rahmen Bilder, weißgetünchte Holzhäuser in grauem Licht, Privathäfen in Lagunen, halbwache Frühstücksterrassen unter schweren Laubschatten, Flußmündungen, letzte Durchblicke zum Meer hinter Molen, die Ansichten vergangener Ferien. Waren es Ferien? Im Sommer 1942 setzte Cresspahl sie in Gneez in einen Zug nach Ribnitz und erklärte ihr, wie sie da vom Bahnhof zum Hafen gehen sollte. Sie war so verstört von der Trennung, ihr fiel nicht Angst vor der Reise ein. Der Fischlanddampfer im Hafen von Ribnitz war ihr vorgekommen wie eine fette schwarze Ente. Auf der Ausfahrt in den Saaler Bodden hatte sie den ribnitzer Kirchturm im Blick behalten, den von Körkwitz dazugezählt, dann die Düne von Neuhaus auswendig gelernt, die ganze Fahrt bis Althagen rückwärts gewandt, um den Rückweg zur Eisenbahn, nach Jerichow später nicht zu verfehlen. 1942 im Sommer wollte Cresspahl das Kind eher aus dem Weg haben. Aus seinem Weg hatte er sie 1951 geschickt, in den Südosten Mecklenburgs, fünf Stunden von Jerichow. Der Bahnhof von Wendisch Burg lag höher als die Stadt, vom Ende des blausandigen Bahnsteigs war der Ostrand des Untersees zu sehen, stumpf im Nachmittag. Sie merkte erst an der Sperre, daß Klaus Niebuhr sie die ganze Zeit in ihrem unschlüssigen Dastehen beobachtet hatte, wortlos, bequem auf das Stangengeländer gestützt, neun Jahre älter als das Kind, das sie erinnerte. Er hatte ein Mädchen namens Babendererde mitgebracht. Sie war eine von denen mit dem unbedachten Lächeln, und Gesine nickte vorsichtig, als Klaus ihren Namen nannte. Sie fürchtete auch, daß er wußte, warum Cresspahl sie vorläufig nicht in Jerichow haben wollte. Ferien waren es kaum. Der Zug rollt gemächlich auf kleinstädtische Vorplätze, Fahrgäste in Büroanzügen treten aus der Dämmerung unter den Dächern hervor, jeder allein mit seinem Aktenkoffer, und legen sich im Zug auf den niedergestellten Sitzen schlafen. Jetzt züngelt die Sonne über den Hausfirsten, wirft Fäuste voll Licht über tiefliegendes Feld. Die Stichbahn von Gneez nach Jerichow war in weitem Abstand an den Dörfern vorbeigeführt, die Stationen waren rote Bauklötze mit giebligen Teerdächern, vor denen wenige Leute mit Einkaufstaschen warteten. Die Fahrschüler stellten sich auf den Bahnsteigen so auf, daß sie vor Gneez alle im dritten und vierten Abteil hinter dem Gepäckwagen versammelt waren. An dieser Strecke lernte Jakob die Eisenbahn. Jakob in dem schwarzen Kittel sah aus seiner Bremserkabine so geduldig auf die Gruppe der Oberschüler herunter, als wollte er Cresspahls Tochter nicht erkennen. Mit neunzehn Jahren mag er die Leute noch nach Ständen unterschieden haben. Von den rostbrandigen Sümpfen New Jerseys über stelzige Brücken schwankt der Zug in die Pallisaden und abwärts in den Tunnel unter dem Hudson nach New York, und sie steht schon lange in der Reihe der Wochenendurlauber und Tagesurlauber im Mittelgang, gelegentlich um einen halben Fuß vortretend, angetreten zum Rennen auf die Wagentür, die Rolltreppe, die verwinkelten Bauverschalungen des Pennsylvania-Bahnhofs, in die Westseitenlinie der Ubahn, in die Linie nach Flushing, auf die Rolltreppe aus dem blauen Gewölbe auf die Ecke der 42. Straße am Bahnhof Grand Central. Später als eine Stunde darf sie nicht an ihren Arbeitstisch kommen, und eine Stunde zu spät nur heute, nach dem Urlaub.

21. August, 1967 Montag
    Aufklarendes Wetter in Nord-Viet Nam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi. Die Marine bombardierte die Küste mit Flugzeugen und feuerte Achtzollgranaten in die entmilitarisierte Zone. Im Süden wurden vier Hubschrauber abgeschossen. Die Unruhen in New Haven gingen gestern weiter mit Bränden, eingeschlagenen Schaufenstern, Plünderung; weitere 112 Personen sind festgenommen worden.
    Neben dem Zeitungenstapel wartet eine kleine gußeiserne Schale, über die die gekrümmte Hand des Händlers vorstößt, ehe sie noch die Münze hat abwerfen können. Der Mann blickt feindselig, dem haben sie sein Geld einmal zu oft weggerafft im Vorübergehen auf der offenen Straße.
    Dafür hab ich mir also den Hals zerschießen lassen, meine Dame.
    Die Leiche
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