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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Autoren: Uwe Johnson
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gelegt worden. Die Polizei trug blaue Helme, Gewehre in der Hand, schoß Tränengas ab. Inzwischen sind 284 Bürger verhaftet, zumeist Afrikaner und Puertorikaner.
    Der Zeitungsstand auf dem Broadway, an der Südwestecke der 96. Straße, ist ein grünes Zelt, herumgebaut um einen Kern aus Aluminiumkästen. Links sind die hiesigen Zeitschriften in Bahnen überlappt ausgelegt, rechts neben dem Eingang die Stapel der Tageszeitungen, rechts außen die Einfuhren aus Europa, gesichert mit verkrusteten Gewichten. Der Stand zeigt den Leuten, die um die Straßenecke leben, das Wetter an; wenn er mit Stangen und Tuch mehr Dach ansetzt, ist bald Regen zu erwarten. Der alte Mann mit der speckigen Schirmmütze, der die Morgenschicht arbeitet, nimmt sich das Recht auf seine Laune. Seine rechte Hand ist verstümmelt; er besteht aber darauf, daß die Kunden ihm das Geld zwischen die krummen Finger stecken, und jeden Morgen übt er, Münzen mit dickem Daumen aus der krüppligen Handgrube zu drücken. An diesem Morgen grüßt er nicht zurück.
    Er kennt diese Kundin: sie kommt an allen Arbeitstagen um zehn Minuten nach acht aus der 96. Straße, sie bringt immer die passende Münze, sie versucht die Titelzeilen der New York Times zu lesen, wenn sie die Zeitung unter dem Gewicht hervorzupft. Sie geht meist mit leeren Händen zur Arbeit, mit der Zeitung unterm Ellenbogen läuft sie in die Ubahnstation hinunter zu immer dem selben Zug (den er gleich darauf durch die Gitter in der Mitte des Broadway einfahren hört). Sie sagt guten Morgen, als hätte sie es auf einer Schule im Norden gelernt; sie ist aber nicht im Land geboren. Der Händler kennt auch das Kind dieser Kundin vom Sonnabend, wenn beide mit dem Einkaufswagen die Straße abfahren; das Kind, ein zehnjähriges Mädchen mit einem ähnlich kugeligen Kopf, aber sandblonden, ausländischen Zöpfen, sagt guten Morgen, als hätte es das auf der 75. Schule einen Block weiter gelernt, und kommt heimlich an Sonntagmorgen, sich eine Zeitung zu holen, die ganz und gar aus gezeichneten Bilderstreifen besteht. Davon weiß die Kundin nichts, noch daß das Kind selten bezahlen muß. Die Kundin kauft keine Zeitung als die New York Times.
    Morgen werden Sie mal nicht grüßen, meine Dame. Alle diese Fisimatenten.
    Gesine Cresspahl kauft die New York Times wochentags am Stand, der Bote könnte ihre Frühstückszeit doch verfehlen. Am Bahnsteig faltet sie das Blatt einmal und noch einmal längs, damit sie es im Gedränge durch die Ubahntür behält und in der Enge zwischen Ellenbogen und Schultern die erste Seite des achtspaltigen Stabs von oben bis unten lesen kann, fünfzehn Minuten unter der Straße dahingerissen, bis sie zu Fuß weitergehen kann. Wenn sie nach Europa fliegt, läßt sie den Nachbarn seine Exemplare aufheben, zurückgekehrt holt sie die versäumte new yorker Zeit Wochenenden lang nach aus fußhohen Stapeln. In der Mittagspause räumt sie ihren Arbeitstisch frei und liest in den Seiten hinter dem Titelblatt, die Ellenbogen gegen die Tischkante gestemmt, nach der europäischen Manier. Bei einem Besuch in Chicago lief sie drei Kilometer durch eine schneewindige Straße aus blinden Wohnkästen, bis sie in einer prochinesischen Buchhandlung noch die überalterte Stadtausgabe aus New York auftrieb, als sei nur dem auswärtigen Druck zu glauben. Auf dem Rückweg von der Arbeit sind die drei Längsfalten so kräftig eingekerbt, daß die Spalten sich gefügig aufklappen, nach rechts umlegen, nach links schwenken lassen, wie die Tasten eines Instruments, unter den Fingern einer Hand; die andere Hand braucht sie für den Haltegriff in den überfüllten, schwankenden Wagen. Einmal nach Mitternacht ging sie, vorsichtig und den Blick geradeaus, durch die heißen Nebenstraßen, vorbei an flüsternden Gruppen und einer Schlägerei um eine betrunkene oder bewußtlose Frau, auf den Broadway, der jetzt dicht mit Polizisten, Prostituierten, Rauschkranken bestanden war, und kaufte die früheste Ausgabe der New York Times und schlug sie auf unter der Acetylenlampe am Giebel des Kiosks und fand die Nachricht, die nun wahrer war als die reißerische Überschrift, die sie den Nachmittagsblättern nicht hatte glauben mögen (das war, als Frau Enzensberger in Berlin den Stellvertreter des Präsidenten mit Bomben aus Puddingpulver erledigen wollte). Sie behält das geknickte, flappige Blatt unter dem Arm bis hinter ihre Wohnungstür und liest beim Essen noch einmal die Berichte aus der Finanz; allerdings
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