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Jagd in die Leere

Jagd in die Leere

Titel: Jagd in die Leere
Autoren: K.M. O'Donnell
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mit Brettern verrammelten Limonadenbude. Della wußte, daß er sie hier draußen, auf diese Distanz, nicht sehen konnte. Er mußte warten, bis sie ihm über den Weg lief, weil er ihre Gestalt im Schneegestöber aus den Augen verloren hatte. Diese Erkenntnis erzeugte in Della die ersten Anzeichen von Mitleid. Er war auch ein Opfer. Sie waren beide Opfer. Sie trugen ein undurchschaubares und sinnloses Spiel unter den prüfenden Blicken von Wesen vor, deren Absichten nicht erkennbar waren, die das alles wahrscheinlich bloß zu ihrem Vergnügen inszenierten.
    Vielleicht wurden sie doch nicht beobachtet, und niemand amüsierte sich über sie. Vielleicht hatte man das alles nur ersonnen, um den beiden letzten Menschen der Erde eine Beschäftigung zu geben. So gesehen ergab das zumindest mehr Sinn als alles andere. Obwohl diese Theorie erschreckend war.
    Übelkeit überkam sie. Sie kämpfte dagegen an und schnappte röchelnd nach Luft, dabei ein Geräusch verursachend, das einem Peitschenschlag glich. Da sie fürchtete, damit ihren Standort verraten zu haben, trat sie schnell an die Bretterwand eines Eiskremstandes zurück und preßte ihr Halstuch gegen den Mund. Als sie vorsichtig Ausschau hielt, ob er reagiert und ihre Verfolgung aufgenommen hatte, sah sie, daß der Mann sich auf der Straße umdrehte und langsam, kopfschüttelnd in entgegengesetzter Richtung davonging. Er ging weg. Er fror.
    Er fror und war müde. Als sie seine Gestalt entschwinden und durch eine vertrackte Lichtbrechung des Schneegestöbers das Watscheln und die grotesken Proportionen eines Zwerges annehmen sah, wußte sie, daß sie erledigt war. Sie mutmaßte, daß der Fragensteller und die X’Ching sich auf einen Augenblick wie diesen vorbereitet hatten. Sie wußte nun, daß der Mann, hinter dem sie her war und der Mann, der hinter ihr her war, zwei Abstraktionen desselben unklaren Musters waren – nur, daß der eine nicht aufzufinden war, während der andere, sein finsterer Bruder, mit ihr ging. Das war der einzige formale Unterschied. Sie hätten ein und derselbe sein können.
    In der Tat, das konnte der Schlüssel sein. Vielleicht waren sie beide ein und derselbe; und wenn der Verfolger schließlich seine Faust hob, um sie in die Ewigkeit hinüberzubefördern, würde ein Grinsen seine ausgezehrten Gesichtszüge erhellen, und er würde sagen: Sag mal, Schwester, hast du nach mir gesucht? Willst du etwas von mir? Schade. Ich bin die ganze Zeit mit dir zusammengewesen. Nun, ich glaube, daß du etwas von mir wolltest, weil das genau die richtige Stelle trifft … und dann würde er sie töten. Ja, das ergab wirklich einen Sinn; der Fragensteller und seine Vorgesetzten (er war ein Verwaltungsassistent, hatte er gesagt; deshalb mußte er schon über Vorgesetzte verfügen) würden so vorgehen. Aber das war nicht eben lustig. Das war ganz und gar nicht lustig. Sie dachte, daß sie wieder zu weinen anfangen würde, aber die Verkrampfung ging vorüber, und sie fühlte eine neue Kälte in sich emporkriechen. Sie wußte, es gab das Objekt ihrer Suche überhaupt nicht, und wahrscheinlich hatte die Mission des Verfolgers ebensowenig Zweck. Sie konnte die Ausmaße des Scherzes, den man mit ihnen beiden trieb, nur vermuten: Adam und Eva in der Hölle, hinausgeschickt, um ohne Hoffnung herumzuwandern und einander in Fetzen zu schlagen, das Ende jeden Ergebnisses, das Ende jeder Möglichkeit. Aber das änderte die Situation nicht: Sie war noch immer die Person, die sie gewesen war. Alles andere war egal. Sie war Della, die gleiche Della, deren Körper sie einundvierzig Jahre lang bewohnt hatte. Diese Della stand dem Terror mit Anmut gegenüber – oder hatte sich selbst davon überzeugt, daß sie es tun würde, falls sie es mußte. Das konnten sie einem nicht nehmen; sie konnten einem alles nehmen, angefangen von den Absichten bis hin zum Gedächtnis, aber was man hatte, war man, und das war alles. Wenn man auch sonst nichts hatte, das hatte man. Man hatte seine Identität.
    Sie würde weitermachen. Sie würde das Spiel spielen. Sie würde jagen und dem Verfolger aus dem Weg gehen – und irgendwann, irgendwann in allernächster Zeit würde der Verfolger sie einholen und seine Pistole heben. Da er wirklich Mordabsichten hegte, konnte sie etwas lernen. Es lohnte sich, darauf zu warten.
    In diesem Augenblick fühlte Della, daß sie wahrscheinlich überleben würde, falls sie diese Stimmung der Neugier bis zum Ende aufrecht erhalten konnte. Sie war dem Spiel voraus.
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