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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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zurückkatapultiert und
rammte auf der anderen Seite die Felsen, die hier die Fahrbahn begrenzten.
    Tinhofer verlor das erschreckende Schauspiel in
der nächsten Biegung aus den Augen. Doch danach war er dem außer Kontrolle
geratenen Wagen näher gekommen, sah mit noch größerer Deutlichkeit, was da vor
ihm geschah. Und sogar die Insassen des Wagens meinte er erkennen zu können:
Spiss, den Fahrer, und den Kopf des Mädchens, der hin und her gewirbelt zu
werden schien.
    Später hätte er nicht sagen können, was Realität und
was Einbildung gewesen war. Später war nur mehr Chaos in seinem Kopf, Bilder
zerborstenen Metalls, zersplitternden Glases, verdrehter Gliedmaßen und von
Blut, Blut, Blut.
    Er sah das Auto nicht abstürzen. Er merkte nur,
dass die Lichter plötzlich verschwunden waren. Hinter einer weiteren Kurve?
Tinhofer fuhr, die Glatteisgefahr höchst vorsichtig beachtend, weiter, hielt
Ausschau nach dem Wagen, nach den roten Lichtern, die wie zwei glühende
Pupillen in die Nacht geleuchtet hatten.
    Zugleich suchte er im Licht der eigenen
Scheinwerfer nach Spuren des Crashs, der sich vor wenigen Sekunden hier
ereignet haben musste. In Schrittgeschwindigkeit fuhr er durch die letzte
Kurve. Und da wurde er fündig: Am Gestein linker Hand war eine lange weiße
Kratzspur. Und gleich danach knirschten seine Reifen über Glas. Hier musste es
passiert sein. Aber wo war das Auto? Wo war Spiss? Wo war das Mädchen?
    Die Antwort fand sich fünfzig Meter weiter
talwärts – da war neben der Straße ein diffuses Licht, rechts, dort, wo es
steil bergab ging.
    Tinhofer hörte sein Herz schlagen. Er biss die
Zähne aufeinander und umfasste das Lenkrad ganz fest. Es war etwas passiert,
etwas Schlimmes, dessen war er sich bewusst. Das Auto musste von der Straße
abgekommen und über den Abhang hinabgestürzt sein. Es war nur noch die Frage,
wie weit.
    Und da war noch eine andere Frage: Was würde er
dort vorfinden? Schwerverletzte? Tote?
    Verdammt noch mal, dachte er, und er spürte, dass
sein Atem gepresst kam. Verdammt noch mal, ich will damit nichts zu tun haben.
    Er war schon bei zahllosen Unfällen als Fotograf
vor Ort gewesen. Frontalzusammenstöße von Autos, schwer gestürzte
Motorradfahrer, ein Eisenbahnunglück. Und einmal war er zu einem
Flugzeugunglück gerufen worden. Eine zweimotorige Maschine war abgestürzt und
dabei auseinandergebrochen. Wie schrecklich das alles auch gewesen sein mochte:
Er hatte es immer nur als Fotograf gesehen, immer nur durch die Kamera
wahrgenommen. Und ihm war so gewesen, als hätte er mit jedem Druck auf den
Auslöser die fürchterlichen Bilder gleichsam auf Film gebannt und gar nicht
erst vordringen lassen bis in seine Seele und seine Gedanken.
    Das Wichtigste dabei aber war stets, dass er
nicht der Erste an einem Unfallort zu sein brauchte. Rettungskräfte, Polizei,
Feuerwehr – alle waren bereits vor ihm da und hatten das Nötige veranlasst. Nie
war er in die Verlegenheit gekommen, Ersthilfe leisten zu müssen. Nie hatte er
einen verletzten Menschen anfassen müssen. Nie waren ihm Schmerz, Leid und Tod
emotional wirklich nahegekommen. An den Unfallorten hatte er das in Blaulicht
getauchte Geschehen stets als Titelfoto der Zeitungen gesehen – real nur als
gedrucktes Bild.
    Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Fotos,
die er gemacht hatte, bekamen für Sekunden ein Eigenleben, und in seinem Kopf
wurden sie zu kleinen Horrorfilmen mit einem Soundtrack aus Schmerzensschreien
und Martinshörnern. Er fuhr weiter, fuhr vorbei an der Stelle, wo keine
Leitplanke den Absturz hatte verhindern können, fuhr vorbei an dem schwachen
Lichtschein, der aus der Tiefe heraufleuchtete, fuhr nach Innsbruck.
    * * *
    Nein, nach Innsbruck fuhr er nicht! Er hatte
es tun wollen, das ja. Aber er war Fotograf. Und in die Bilder des Entsetzens
mischten sich Selbstbildnisse von ihm als Fotograf: wie er in jedem Chaos
stand, die Kamera vor dem Gesicht, ruhig, sicher, eine Autorität, um die selbst
Rettungssanitäter einen Bogen machten.
    Er lenkte den Wagen an den Straßenrand, sodass er
mit den rechten Rädern auf dem schmalen Bankett zum Stehen kam, schaltete die
Warnblinkanlage ein, schnappte sich die Kamera vom Beifahrersitz und ging
hinaus in die kalte Nacht.
    Er atmete die eisige Luft tief ein und ganz
langsam aus.
    Ich bin Fotograf, dachte er. Ich mache meinen
Job. Mache nur meinen Job.
    Seine Hände zitterten noch, aber er wusste, dass
er sie zum Fotografieren ruhig bekommen würde. Es war

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