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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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1
    Es gab viele Theorien über die seltsame Krankheit des Zweiten Herrschers der Freien Republik Aburĩria, fünf davon aber waren in aller Munde.
    Die Krankheit war, der ersten Theorie nach, aus einem Zorn heraus geboren, der einst in ihm aufstieg; und er war sich der Gefahr, die sie für sein Wohlbefinden darstellte, so bewusst, dass er alles versuchte, um diesen Zorn loszuwerden: Nach jeder Mahlzeit rülpste er ausgiebig, zählte manchmal von eins bis zehn oder rief laut „ka ke ki ko ku“. Warum er ausgerechnet diese Silben benutzte, konnte niemand sagen. Doch räumte jeder ein, dass der Herrscher nicht ganz unrecht hatte. So, wie die üblen Gase eines unter Verstopfung Leidenden ausgestoßen werden müssen und auf diese Weise der Druck auf die Gedärme verringert wird, braucht auch der Zorn eines Menschen einen Weg nach draußen, um den Druck auf sein Herz zu mindern. Dieser Herrscherzorn aber wollte nicht vergehen und gärte weiter in seinem Innern, bis er sein Herz aufgezehrt hatte. Es heißt, darauf gehe das aburĩrische Sprichwort zurück, dass Ärger zerstörender wirkt als Feuer, weil er einst die Seele eines Herrschers ausgehöhlt habe.
    Wann hatte dieser Zorn Wurzeln geschlagen? Als zum ersten Mal Schlangen auf der nationalen Bühne auftauchten? Als das Wasser im Schoß der Erde bitter wurde? Oder als er Amerika besuchte und es ihm nicht gelang, ein Interview in der berühmten Sendung „Ein Treffen mit den Mächtigen der Welt“ auf Global Network News zu bekommen? Man erzählt sich, dass er seinen Ohren nicht traute, als man ihm mitteilte, ihm keine einzige Sendeminute einräumen zu können. Er verstand nicht, wovon die da eigentlich redeten. Schließlich war er in seinem Land zu jeder Tages- und Nachtzeit im Fernsehen zu sehen; jede seiner Regungen – Essen, Scheißen, Schnäuzen oder Niesen – wurde von Kameras eingefangen. Sogar wenn er gähnte, war das eine Nachricht wert, weil sein Gähnen – sei es aus Langeweile, Müdigkeit, Hunger oder Durst – oft genug ein Drama nationalen Ausmaßes zur Folge hatte: Er ließ seine Feinde öffentlich mit dem sjambok auspeitschen, ganze Dörfer wurden in die Luft gesprengt, oder eine mit Pfeil und Bogen ausgerüstete Kommandoeinheit durchlöcherte ein paar Leute und ließ die Leichen als Festmahl für Hyänen und Geier zurück.
    Man erzählt sich, er habe ein besonderes Talent besessen, Zwietracht unter den aburĩrischen Familien zu säen und zu nähren. Denn gerade Szenen des Leids besänftigten ihn und bescherten ihm festen Schlaf. Nichts aber, so schien es, war jetzt in der Lage, seinen Zorn zu mildern.
    Aber konnte Zorn, wie tief er auch saß, überhaupt eine geheimnisvolle Krankheit auslösen, die aller Logik und jeglicher medizinischer Sachkenntnis widersprach?

2
    Der zweiten Theorie zufolge war die Krankheit ein Fluch, der sich mit dem Blöken eines ungerecht behandelten Ziegenbocks über den Herrscher legte. Es wird erzählt, ein paar Älteste hätten sich, beunruhigt vom Anblick der Blutströme, die das Land überfluteten, dazu entschlossen, dieses Übel wie die Epidemien zu behandeln, die in alten Zeiten das Überleben der Gemeinschaft bedrohten: Doch anstatt das Übel im Bauch eines Tieres zu begraben, indem sie ihm Fliegen – das Symbol für die Epidemie – in den Anus stopften, wollten sie einem Ziegenbock die Haare des Herrschers, die für das Böse standen, durch das Maul ins Innere pflanzen. Anschließend sollte dieser den Herrscher verkörpernde Sündenbock geächtet und aus allen Gegenden des Landes vertrieben werden, in denen sein Meckern seine unheilvolle Anwesenheit verkündete.
    Unter Anleitung eines Medizinmanns mischten sie die Haare, die sie sich heimlich beim Barbier des Herrschers besorgt hatten, mit Gras, Salz und magischen Tinkturen und flößten sie dem Ziegenbock ein. Mit Nadel und Faden begann der Medizinmann dann, die sieben Körperöffnungen des Tieres zu verschließen, wobei er mit dem Anus anfing. Doch der Ziegenbock wehrte sich, stieß einen markerschütternden Schrei aus und flüchtete, noch bevor ihm der Medizinmann das Maul zunähen konnte. Man berichtet, er blökte seinen Kummer ins ganze Land hinaus, bis sein Schrei auch den Herrscher erreichte. Als dieser von dem Fluch erfuhr, den er für einen Aufruf zum Putsch hielt, schickte er Soldaten los, die den Ziegenbock und alle, die in diese Angelegenheit verwickelt waren, zur Strecke bringen sollten. Es geht das Gerücht um, der Ziegenbock, der Barbier, der
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