Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut
Autoren: Ines Eberl
Vom Netzwerk:
stärker floss – bevor die Autobahn durchs
Wipptal zum Brenner inklusive der 1963 fertiggestellten Europabrücke gebaut
worden war –, hatte es hier reichlich Verkehrsunfälle gegeben.
    Doch auch jetzt noch war die Strecke berüchtigt.
In unschöner Regelmäßigkeit erwischte es hier Motorradfahrer, die sich selbst
über- oder die Straße unterschätzten. Und dann waren da natürlich die
überforderten Urlaubsreisenden, die sich auf dem Weg nach Süden oder auf dem
Rückweg aus den Ferien die Autobahnmaut sparen wollten, dabei aber viel zu
wenig Fahrroutine besaßen, um diesen durchaus anspruchsvollen Streckenabschnitt
sicher bewältigen zu können. Die Autos wie die Motorräder schossen über die
Kurven hinaus und sausten im Schatten der gewaltigen Europabrücke in den
Abgrund.
    »Wenn du weiterhin so schnell fährst …«, hauchte
ihm Carla ins Ohr. Sie hatte den Mantel wieder zu Seite geschoben und drückte
sich an ihn. »Wenn du weiter so schnell fährst, wirst du uns noch ins Verderben
stürzen.« Sie sagte es, meinte es aber nicht ernst. Das spürte er.
    »Ich hab doch gute Reifen«, sagte er lächelnd.
»Reifen-Spiss ist doch ein erstklassiges Unternehmen.« Und er sagte lachend den
Werbeslogan seines Unternehmens auf: »Sommerreifen. Winterreifen. Erstklassiges
Profil. / Sicherheit und Qualität kosten gar nicht viel. / Reifen-Spiss.
Innsbruck, Kufstein, Salzburg, Bregenz, Feldkirch, Linz / Und demnächst auch in
Graz und Wien.«
    Er sah zu ihr hinüber, sah ihre Brüste im
Halbdunkel, sah die Knospen steif und lüstern, sah in Carlas junge Augen, die
trotz des geringen Lichtes zu leuchten schienen, und er spürte, wie sie ihm
sanft die rechte Hand vom Lenkrad nahm und an ihren Schritt führte. Ihren Flaum
spürte er und die warme Feuchtigkeit, die er bei seiner Ehefrau schon lange
vermisste.
    Eine Lust stieg in ihm auf, wie er sie in seinem
Leben nur mit Carla erfahren hatte, nie mit einer anderen Frau, schon gar nicht
mit seiner eigenen. Eine Lust, die ihn berauschte und verzauberte, die ihn
jedes Mal schweben ließ und ihn glauben machte, er würde für eine halbe Stunde
den Boden unter den Füßen verlieren.
    Und er verlor ihn wie noch nie.
    * * *
    Als der kurvige Streckenteil begann,
verlangsamte Tinhofer die Geschwindigkeit. Die Straße war nass, die Temperatur
nur knapp über null. Er befürchtete, dass sich hier im Wald stellenweise Glätte
gebildet haben konnte, und das war nun doch zu viel.
    Ich riskier doch nicht mein Leben, dachte er.
    Und er sah seine kleine Tochter, die jetzt mit
ihrem Kuschelteddy im Arm schlief, und seine Frau, die im fünften Monat
schwanger war. Das stimmte ihn glücklich.
    Er nahm den Fuß vom Gaspedal und ging mit nicht
einmal fünfzig Stundenkilometer in die erste scharfe Rechtskurve. Die
Rücklichter von Spiss’ Mercedes waren längst hinter der nächsten Biegung
verschwunden. Es war fraglich, ob er ihn noch einmal einholen würde.
    »Scheiß einfach drauf«, sagte Tinhofer halblaut
zu sich selbst. Er fingerte sich eine HB aus der Packung, die halb voll neben der Kamera auf dem
Beifahrersitz lag. »Halt, mein Freund! Wer wird denn gleich in die Luft
gehen?«, rezitierte er den bekannten Werbeslogan der Marke. »Greife lieber zur HB , dann geht alles wie von
selbst!«
    Mit dem glimmenden Anzünder steckte er die
Zigarette an, zog mehrfach kräftig und inhalierte den Rauch tief in die Lungen.
Er liebte das Gefühl, wenn der Rauch rau durch seine Atemwege strömte, ihn
wärmte und kühlte zugleich, und wenn er sich plötzlich leichter fühlte, so als
wäre es ein Gas, das den Ballon zum Aufsteigen brachte.
    Einen Moment lang sah er die Rücklichter von
Spiss’ Wagen, doch schon Sekunden später waren sie wieder verschwunden.
    Fährt auch langsamer jetzt, der geile Bock,
dachte er. Und er musste schmunzeln. Die Chance war noch nicht ganz vertan.
    Der Asphalt glitzerte nass im Licht seiner
Scheinwerfer. Der Regen wurde wieder stärker. Und es war Weiß mit dabei – ein
Hauch von Schnee. Die Scheibenwischer quietschten über das Glas. Hätte ich
schon längst auswechseln sollen, dachte er. Es war nicht nur das Quietschen,
das ihn störte, sondern auch der Schmierfilm, der entstand, wenn die Wischer
den Regen mit dem Schmutz vermischten.
    »Zum Kotzen, zum Kotzen, zum Kotzen«, maulte er.
    Der Wischer quietschte und schmierte. Ein
Lieferwagen kam entgegen, und die schlecht eingestellten Scheinwerfer
blendeten, und das Licht brach sich an der verschmutzten Scheibe.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher